Der beste Thriller seit SJ Watsons Before I go to sleep. Und der beste Beweis dafür, wie Amazon-Lesemädchen-Bewertungen mehr den begrenzten Horizont der Rezensentinnen spiegeln als die Handlung und Wirkmacht einer Erzählung.
Second Life ist kein klassischer Whodunit, auch wenn die Frage verfolgt wird, wer die Schwester der Protaginistin getötet hat. Julia, Mitte 30, Arztgattin und Mutter/ Erziehungsberechtigte ihres Neffen, blickt auf eine große Liebe zurück. Mit Anfang 20 lebte sie mit ihrem Freund Marcus in Berlin. Was aus dieser Zeit geblieben ist – ein Porträtfoto, das Jahre nach seiner Entstehung zur Ikone seiner Zeit geworden ist und eine überkommene Heroin- und Alkoholabhängigkeit. Als ihre Schwester Kate in ihrer Wahlheimat Paris ermordet aufgefunden wird – ein Drogen-Hintergrund wird vermutet – macht sich Julia auf Spurensuche.
Was den Rezensentinnen nicht gefällt – Julia sei keine Sympathieträgerin. Dies wird zurückgeführt auf die innere Anspannung, die sie aufgrund ihrer Suchtgeschichte prägt und die waghalsigen Entscheidungen, die sie im weiteren Verlauf trifft. Diese seien nicht nachvollziehbar, sie begebe sich unnötig in Gefahr, riskiere nicht nachvollziehbar ihre Existenz und die ihres Umfelds. Ganz im Gegenteil gelingt es Watson, das Innenleben einer trockenen Alkoholikerin nachvollziehbar zu machen. Viele ihrer Entscheidungen trifft sie aus Versuchung*, und das sich tiefer Verstricken und der Sog, dem sie sich hingibt, sind plastisch und wahrhaftig beschrieben – Suchtverhalten eben. Dass dies das Lesemädchen-an-sich verunsichert und verstört, mag sein, aber auf Lesemädchen hören bedeutet eben, die Messlatte sehr tief anzulegen. Was selbst dieser Menschanschlag in seinen Reviews nicht abstreitet – das Buch hat Tempo, Schlag auf Schlag auf Schlag treibt die Handlung voran, wird die Situation bedrohlicher und zieht sich die Schlinge enger. Unputdownable. Und dies bis zur letzten Seite. Watson hat mit seinem Debut ein neues Thriller-Niveau etabliert und hält dieses mit Second Life. Dies war zuletzt, eine Generation zuvor, Barbara Vine gelungen. Auch bei ihr stand die Aufklärung eines Kriminalfalls nicht im Zentrum, wurde aber ausgeweitet um die psychologische Disposition ihrer Protagonisten, die sich in einer Welt, gestrickt aus Schuld, Sühne, Zufall und Schicksal, bewegen. Entlang der menschlich-moralischen Verstrickung wird der Faden verfolgt, der zum Anlass der Tat und der Auflösung der Geschichte führt. Mehr davon!
* And, as we know – “Temptation is like dandruff. You don´t always know it is there. But it is there.” (Sydney Andrews)