REISEN MIT MEINEN TANTEN

Da machte es dann auf einmal Knacks in der Familie und wir haben uns seitdem nicht davon erholt, im Gegenteil, aus dem Knacks ist ein Bröckeln und Bröseln und Biegen und Brechen geworden und jetzt sind wir einander unwohl gesonnen, weil wir uns auf unsere hässlichste Art kennen gelernt haben. Und das kam so.

Mein Mutter hat fünf Schwestern und einen Bruder. Den Bruder ging bei der Vertreibung aus Polen verloren. Das war Bestandteil unserer Familiengeschichte, also nichts Besonderes. Etwas, das geschehen ist, wird normal. Erst Mitte der 70er hatte man ihn ausfindig gemacht und drei Schwestern und seine Mutter, meine Oma Sofie, reisten hinter den eisernen Vorhang, um nach dreißig Jahren eine Familienzusammenführung zu versuchen, die an der Sprachbarriere scheiterte. Er konnte kein Deutsch mehr, seine Schwestern kein Polnisch. Fürderhin schickte man Briefe, die ihm und seiner Familie übersetzt wurden und natürlich Carepakete. Die Geschichte meines Onkel Michaels zu erzählen würde das, was mit dem Westrest der Familie geschehen sollte, in Drama und Tragik in den Schatten stellen, weshalb ich damit jetzt hier nicht anfange. Ein paar Jahre nach dem Tod meines Onkels beschloss meine Mutter, sie möge ihr Geburtshaus sehen, das sich in der Nähe von Lodz befand. Dieses Haus war der Familie in der „Heim ins Reich“-Aktion zugeteilt worden, wofür man einen polnischen Bauern enteignete. Was mit dem Haus geschehen war, nachdem man wenige Jahre später die Familie meiner Mutter enteignet hatte, das war nicht überliefert, da bestand Aufklärungsnotstand. Und so bestiegen die sechs Schwestern, zwei Cousinen, ein Cousin, einige der Gatten der Damen sowie meine Cousine S. und ich einen kleinen Bus, der uns ins tiefe Polen fuhr.

An dieser Stelle halte ich innen und werde mir der dramatischen Dimension dieses Berichts bewusst. Um der Geschichte gerecht zu werden, müsste ich noch enormer ausholen als bis ins Jahr 1947. Ich müsste den weiteren „Flucht“-Verlauf beschreiben, erklären, wie meine Großmutter ihre Familie alleine durchbrachte, wie mein Großvater, wenn er schon mal da war, auf sie eindrosch, wie das, und die ständige Häme, die sie als „Polackenkinder“ erlitten sich auf die Sozialisierung der sechs Schwestern auswirkte und welche Blüten und Dornen das in ihren Seelen trieb. Wie da eine ziemlich partculière Famile entstand, die eine starke Bindung hatte und die auch mich prägte. Doch dann wäre es ein Roman, und den scheue ich mich (noch) zu schreiben. (Wenn man ehrlich sein dürfte, innerhalb von Familien, dann wäre jede Familiengeschichte an Spannung kaum zu überbieten.)

Der Reisebus nach Polen. „And when the rain begins to fall“ im Radio – drei Mal an einem Tag. Davon überlebt also jemand wie Pia Zadora. Radiostar in Polen! Mein Onkel H., der Cousin der Schwestern, macht ständig schmutzige, unlustige Witze. Das ist er vom Fliesen legen gewohnt. Die böse Tante L. fragt ständig, wer sich mit ihr einen Piccolo teilen möchte, so dass der Vorrat schon erschöpft ist, als wir die Grenze nach Polen überqueren. Tante W., die ein Jahr getrennt von der Familie bei meinem Großvater aufwuchs, als der eine Affäre mit einer bayrischen Bäuerin hatte und sich die Sonne auf den Pelz brennen ließ, während seine Frau, meine Oma Sofie sechs Töchter durch zu bringen hatte, reagiert auf Fragen über ihre Kindheit bockig; das sei alles so lange her und sie könne sich an nichts erinnern, wird zunehmends und für alle spürbar unruhig. Die Fahrt hat alle Ingredenzien einer Familienfeier. Schlechter Humor, ständiges Fressen (alle anderthalb Stunden wird auf einer Raststätte halt gemacht, ein Buffettisch mit Hausmacherwurstspezialitäten aufgebaut und Bohnenkaffee aus der Thermoskanne gereicht), zuviel Alkohol und später sollen dann auch noch die Tränen fließen, das klassische Programm.

In Belchatow, der ehemaligen Kreisstadt angekommen, wird erst einmal zu Abend gegessen. Dann Sightseeing in einer Stadt, in der es nichts zum Anschauen gibt. Bevor wir uns am nächsten Tag auf die Suche nach dem Geburtsort machen, der damals schon eher eine Siedlung als ein Dorf war, fahren wir mit einer Dolmetscherin in die Stadt, um aufs Amt zu gehen. Die Sehnsucht nach Urkunden, das Lesen des Familiennamens auf polnischem Papier ist groß. Die Dolmetscherin sabotiert uns, schleppt uns in ein Minimuseum und erzählt uns Geschichten, die wir nicht hören wollen – wir sind doch die mit den Gechichten; wenn die W. nur mal auspacken würde, wie es damals so war in der heilen Welt und so weiter. Die Dolmetscherin befürchtet vermutlich, die Imperialisten wollen das Familienhaus für sich beanspruchen – dabei ist es lediglich dieses typisch deutsche Ding, etwas amtlich zu machen. Etwas in Schriftform vorgelegt zu bekommen, damit man es abheften kann. Fünf Minuten vor Mittagspause, meine Mutter hat sich durchgesetzt, stehen wir auf einem Amt, das wir nicht schlauer verlassen als wir es betreten haben. Und setzen uns in den Bus und fahren aufs Land, nach Jozefow. An den Landstraßen stehen Neubauten in diversen Stadien der Fertigstellung. Als es mit den Neubauten aufhört fängt es mit den Feldern an. Es ist dieses Gefühl, immer mehr nach innen zu gelangen, wo alles aufhört. Felder, Hecken, kleine Haine. Ein Ortsschild und ein Aufkreischen der weiblichen Passagiere – „Da lang!“ und dann fährt dieser fette imperalistische Kleinbus eine Schotterstraße entlang, „da ist der Teich – der kam mir früher vor wie ein See!“ und ist jetzt nur noch ein Tümpel. „Ist es das?“ „Nein, das kann es nicht sein“ und fahren an einer Hausruine vorbei. An einer weiteren, noch einen, dann, auf der anderen Straßensenseite ein Haus, das bewohnt scheint. Der Bus rumpelt und hält. Gesichter lugen aus den Fenstern des Hauses. Eine ungefähr 200jährige kleine Alte tritt auf den Hausstein und wischt sich die Hände an ihrer Kittelschürze ab. Hält die Hand sonnenabschirmend über die Augen.
„Wanda?“ Fragt Frau Kowalczyk. Und meine Tante Wanda fängt an zu heulen.

To be continued.

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