Andrew Solomon: FAR FROM THE TREE

Professor D. hatte das vor ca 20 Jahren geschafft. Mir ein Buch zu empfehlen, das meinen kulturellen Lebensweg prägen würde. Camille Paglias „Sexual Personae“ war das damals. Es hat mir eine Lesart mitgegeben, die mich viele Jahre begleiten sollte. Dass ich noch einmal ein Buch empfohlen bekommen würde, das meinen Blick auf die Dinge entscheidend verändern würde, damit hatte ich ebenso wenig gerechnet wie mit der Wahrscheinlichkeit, in meiner Lebenszeit Kate Bush live singen zu sehen. Aber auch dies geschah in diesem Jahr. Zwei Mal.

Mein Agent. Ein Mann vor dem ich Achtung habe, und den ich als Mensch schätze. Empfahl ein Buch, in dem es um Identitätsfindung innerhalb von Familien geht. Ich erkannte erst einmal nicht, warum mich das Thema (noch) tangieren sollte. Bis ich zu lesen begann. „Far from the Tree“ von Andrew Solomon sollte jeder lesen. Es öffnet Augen und Herzen. Seit der Lektüre betrachte ich Menschen mit der Vorgabe „Aber seine Mutter liebt sie/ ihn vermutlich“ und gehe mit weniger Mitleid und viel mehr Empathie durch die Welt. Natürlich gibt es auch Menschen, die nicht einmal von ihrer Mutter geliebt wurden/ werden, but and that just goes to show.

Solomon schreibt von der vertikalen und der horizontalen Identität. Vertikal ist alles, was die Eltern in ihrem Kind von sich wieder erkennen (was sie ihm quasi herabreichen) – Hautfarbe, Sprache, oft Religion, physische Ähnlichkeit, gemeinsame „Eigenarten“. Horizontal sind die Identitätsmerkmale, die nicht denen der Eltern entsprechen, in denen sie sich nicht wiedererkennen, und die somit eine Herausforderung darstellen; explizit – das ist anders, muss das weg? Das kann so etwas sein wie ein Teenie, der sich die Haare färbt und sich ein dutzend Piercings verschafft oder aber auch lebenslang unabänderliche Symptome/ Eigenschaften. Solomon hat über viele Jahre Familien begleitet, in denen mit horizontalen Identitäten umgegangen wird, um zu erfahren, wie Familien mit der Andersartigkeit einzelner Kinder erleben un damit umgehen. Stumm geborene Kinder sprechender Eltern, zwergwüchsige Kinder „normal“ großer Eltern. Schizophrene oder autistische Kinder, Kinder mit Down-Syndrom, Transgender, „Wunderkinder“, Behinderte, jugendliche Kriminelle. Er schreibt mit Wärme und Verständnis im Sinne des Wortes. In jedem Kapitel zu den gerade genannten Identitäten berichtet er von den Erfahrungen verschiedener Familien, die er über lange Zeiträume begleitet hat. Zustande kommt ein Gesamtbild, das nicht nur Mut macht, sondern auch den Blick auf Andersartigkeit als lebensbereichernde Herausforderung öffnet und Bewunderung schafft für die Eltern, die „am Ball bleiben“ auch wenn sie von ihrem Kind, aufgrund seiner Kondition, wenig zurück bekommen.

Die Thematik führt zu weitreichenden Fragen. Ab wann ist eine Kondition als krankhaft zu bezeichnen. (Eine Organisation namens Mad Pride setzt sich für den Begriff und die Anerkennung der „neurodiversity“ ein.) Macht Inklusion Sinn, wenn in vielen Fällen das Zusammensein mit Peers zu Selbst-Akzeptanz, Gemeinschaftsgefühl und Identität führt? (Solomon veranschaulicht das sehr eindrucksvoll am Beispiel von stummen Kindern sprechender Eltern, die das erste Mal mit Gebärdensprache in Berührung kommen und im Kreis von anderen Gebärdensprachlern Kommunikation erstmals mit Gleichsprachigen zu praktizieren und nicht mehr mit der Frustration leben, Sprache nicht als Sprechender zu erleben. Die Gebärdensprache verfügt über unglaubliche Nuancen und eine ihr eigene Grammatik. Im Kreis von Gebärdesprachlern wird Sprech-Sprache überflüssig, stumm sein ist kein Manko oder Mäkel mehr. Solomon beschreibt die Ankunft in der Gemeinde der Gebärdensprachler so, wie ich mit 20 meine Ankunft in der schwulen Szene erlebt habe – es öffnen sich Türen und Fenster, man ist endlich angekommen.)

Der medizinische Fortschritt stellt für diverse Communities eine Bedrohung dar. Wenn Eltern im Stadium der Schwangerschaft über mögliche „horizontale Herausforderungen“ in Kenntnis gesetzt werden können (wie es jetzt z.B. schon im Falle des Down-Syndrom möglich ist), ist es an ihnen, zu entscheiden, ob das Kind lebens-wert ist. Würde man ein Kind das taubstumm auf die Welt kommt verhindern? Ist ein Leben jenseits der „Normalität“ ein lebensunwürdiges Leben?

Irgendwann in der Lektüre kommt man bei der unbequemen Frage an: unter welchen Voraussetzungen ist ein Leben (noch) lebenswert? Solomon beantwortet diese nicht direkt, aber er lässt Eltern und Aufwachsende aus ihrer Erfahrung sprechen. Für mich konnte ich die Frage danach beantworten – solange jemand bei allem, was man von außen gegebenenfalls als „Leid“ oder Stigma betrachtet, zu Freude fähig ist. Nun ist es so, dass man nicht immer von außen beurteilen kann, was im Innern eines Menschen vorgeht, der nicht in der Lage ist, selbst zu beschreiben, was er fühlt oder was er will. Meine Hochachtung vor Menschen, Eltern, die sich mit Liebe auch um die Kinder kümmern, von denen sie aufgrund ihrer Kondition keine Gegenliebe erfahren (wie im Falle schwer autistischer Kinder.)

Bis in die 70er war es gang und gebe, Kinder mit Down-Syndrom oder Spastiker in Heime zu geben. Wer einen Eindruck davon bekommen möchte, wie es teilweise in diesen Institutionen vorging, dem empfehle ich die DVD-Doku „Unforgotten: 25 Years after Willowbrook“ . Hier kommen Patienten – eher Insassen – zu Wort, die den Ort, der Anregung für „American Horror Storys“ Klinik Briarcliff war, überlebt haben. Vor dem Betrachten empfehle ich ein leichtes Beruhigungsmittel. Es tut weh, zu zu hören, wie ein hochintelligenter Spastiker seine Erlebnisse, die „Behandlung“ die ihm widerfuhr (praktisch gar keine), schildert.

Dem Wert, den eine Community für Außenseiter/ Horizontale ausmacht sehe ich auch in AHS „Freakshow“ Tribut gezollt. So kommt für mich in diesem Herbst thematisch alles zusammen. „Far from the Tree“ sollte in Schulen zur Pflichtlektüre werden, denn es veranschaulicht praktizierte Ethik und Weltklugheit in einer Zeit der Vielfalt und lehrt mehr als ein paar Bibel-Kurse. Dies ist nicht nur der ausufernden Recherche geschuldet, sondern vor allem den unzähligen menschlichen Portraits unterschiedlichster Familien, die sich bereit erklärt haben, Einblicke in ihren Haushalt, aber vor allem ihren Gefühlshaushalt zu gewähren.

Bei aller Komplexität ist „Far from the Tree“ vor allem eins: eine äußerst wohltuende Lektüre. Wenn man erst einmal hinschaut und zuhört, sich den Identitäten stellt, folgt ein erweiterter Blick. Es tut gut, in andersartige Erfahrungswelten Einblick zu nehmen. Es öffnet den Blick, den Verstand und das Herz.

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