BARBARA VINE, „THE CHILD´S CHILD“

Man sollte ja nicht über ein Buch schreiben, wenn man es noch nicht durchgelesen hat, außer man hat nicht vor, es zu Ende zu lesen, was hier ganz bestimmt nicht der Fall ist. Aber in Kürze ist Weihnachten und vielleicht benötigen Sie noch ein Geschenk. Dann kaufen Sie „The Child´s Child“, nicht geringeres als das Comeback der Barbara Vine (Ruth Rendell, wenn sie es ernst meint). Zwei Handlungsstränge, zwei Zeitebenen – im London der Gegenwart beziehen die Geschwister Grace und Andrew Easton ein Haus, das ihnen von ihrer Großmutter vererbt wurde. Beide sind Single und verschwenden keinen Gedanken daran, wie sich die Wohnsituation entwickeln könnte, wenn eine/r der beiden eine Beziehung eingeht. Andrew ist erster – er verliebt sich in den attraktiven aber getroubleten Schriftsteller James Derain, der bald ein- und ausgeht, als sei es sein eigenes Haus.
Grace, die gerade an ihrer Dissertation in Englischer Literatur arbeitet (Thema: uneheliche Kinder in der englischen Literatur), bekommt von einem Bekannten ein unveröffentlichtes Romanmanuskript, das im Jahr 1929 angesiedelt ist. Es handelt von einem Geschwisterpaar, das ganz ähnlich aufgestellt ist wie sie und ihr Bruder.

Mehr sollt man nicht verraten. Das ist eine Grundkonstellation, aus der Vine alles herausholt, was sie zu einer der begnadetsten psychologischen Autorinnen unserer Zeit macht. Sie beweist, dass sie von ihren Fähigkeiten im Plotting nichts verloren hat. Sie besinnt sich auf die Zutaten, die ihre besten Bücher so großartig gemacht haben. Die Themen Schuld und Sühne. Reue. Wehmut. Den Moralwandel unserer Kultur, beginnend in den Sechzigern. Einem Verständnis für Täter. Sie fächert die Hintergründe auf, die zu Handlungen führen, die gesellschaftlich inakzeptabel sind oder zu sein scheinen. Das ganze in einer schlicht eleganten Sprache und mit einer Weisheit, wie sie nur postpostmoderne Moralisten haben – Menschen mit emotionaler Intelligenz und Lebenserfahrung, die weit über den Tellerrand schauen.

Es war für mich immer Tradition, die ein zwei unterstreichungswürdigen Sätze in einem Vine-Roman zu finden, die alles auf den Punkt bringen. In den letzten Romanen kamen sie nicht mehr vor. In „The Child´s Chid“ gibt es gleich mehrere. Mein liebster: „Emotion makes us cry, not unhappiness.“

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