Amelie H. war auschlaggebend. Sie war die einzige Freundin, die ich hatte, und als sie weggezogen war, war ich nicht nur allein, sondern ausgeliefert. Ich war anders, fiel auf, unangenehm. Meine Schulnoten verschlechterten sich und ich war überfordert mit allem. Entwickelte ein paar Ticks, die mich noch auffälliger machten. Konnte nicht mehr mithalten. Am Schlimmsten war der Schulsport, wo ich mich mit den anderen Jungs messen sollte und immer nur verlor. Im Sport wurde es am Deutlichsten, dass ich nicht dazu gehörte. Und ich hatte keinerlei Vision, wie sich das ändern ließe, keinen Schimmer. Ich wachte morgens auf und hätte nur heulen wollen. Es half auch nicht, dass ich bei meinen Eltern nur auf Unverständnis stieß. Die konnten nicht nachvollziehen, warum mir alles so schwer fiel. Das Lernen. Überhaupt den Weg in die Schule zu finden. Ich war immer häufiger krank, bzw „krank“.
Ich frage mich bis heute, wie Eltern ihre eigene Pubertät vergessen können. Wie ihnen das Nachempfinden komplett abgeht, wie sie einen allein lassen und nicht sehen, dass dieser Kampf in einigen Fällen nicht zu gewinnen ist.
Ich wollte die Schule wechseln, dahin wo Amelie war. Das wollten sie nicht. Sie wollten, dass ich es allein schaffe, mich durchzusetzen, mich zu behaupten. Aber jeder Tag war für mich ein Meerjungfrauenspaziergang und es wurde immer klarer, dass es nur einen Ausweg gab. Meinen Selbstmordversuch plante ich methodisch, es war nichts überstürztes dabei. Es dauerte fast ein halbes Jahr, bis ich den Mut zusammen hatte. Ein Dienstag im August 1982, was nichts mit Marilyns 20tem Todestag zu tun hatte, ich war so in meinem Plan, dass es keine andere Ebene des Bewusstseins gab, außer es endlich zu tun. Die Pillen hatte ich über Monate gesammelt. Ich setzte mich eines Nachmittags, als die Eltern aus dem Haus waren, aufs Bett, schluckte die Tabletten und
Blank.
Meine Erinnerung setzt ein paar Wochen später ein, ich gehe im Dorf spazieren und jemand fragt mich, wann ich wieder zur Schule kommen werde. Dort wissen alle bescheid, jetzt ist mein Outsider-Status überhaupt nicht mehr zu leugnen. Das ist Fluch und Segen zugleich, denn als Selbstmörder geoutet lerne ich endlich Menschen kennen, die mit der Welt, wie sie ist, auch nicht klarkommen, die in der Teenagerhölle gestrandet sind und es genau so wenig aushalten können wie ich. Und wie das Kunstseidene Mädchen fliehen wir alle drei nach Berlin, kaum dass der Kater der Abifete ausgeschlafen ist. Und, nein, leicht waren auch die jahre von 14 bis 18 nicht. Aufgrund des Selbstmordversuches glaubten meine Eltern nun, mehr Kontrolle über mich ausüben zu müssen, es gab mit einem mal Verbote, Hausarrest, Streit und Brüllerei. Immer wieder kam ich an den Punkt, es noch einmal zu tun, aber dank meiner neuen Freunde gab es auch immer einen Grund, weiter zu machen, diese Jahre des Erduldens zu überleben, um endlich frei zu werden. Ohne jede Ahnung, was man mit dieser Freiheit anfangen sollte. Ich hatte vergessen, mir ein Ziel zu setzen, weil ich so sehr mit dem Überlebenskampf beschäftigt war.
Rückblickend wundert es mich, dass ich kein Psychotiker geworden bin, sondern nur extrem neurotisch bis ca Anfang 30. Der Selbstmordversuch mit 14 war keine Folge einer Neurose, sondern eine Reaktion auf meine Umwelt, die ich heute noch als vollständig rational einstufe. Sollte sich jemals wieder eine solche Finsternis über mich legen, durch äußere Umstände, ich würde es wieder tun. Ich war in all den Jahren danach ein paar Mal wieder an der Stelle, wo man abwägt. Wenn man es einmal versucht hat, dann bleibt es eine Option. Auch das ist Freiheit.
REPLY:
das fremdsorgen habe ich am wochenende mit der nichte erlebt. allein unterwegs hätte ich im getümmel vermutlich unwohlsein verspürt, mit ihr unterwegs habe ich mir nur gedanken über ihre befindlichkeit gemacht.
die gewißheit, diesen ausweg zu haben, hat mich durch meine gesamte jugend begleitet.
und dann war es anders. ich wußte, egal, was passiert, ich muß am nächsten morgen aufstehen. ich selbst bin in meinen lebensprioritäten auf platz 2 gerutscht. auf platz 1
warist mein kind. das klingt pathetisch, ist aber realität.REPLY:
ich weiss…… deshalb frage ich mich auch was schlimmer ist…… den beides deckt schwachstellen auf….. schlimm ist immer! wenn es zum bitteren ende geht….. gearbeitet muss immer daran erst von da an wird einem eine chance gegeben stärker zu werden daran…..
bei mir waren wenigstens in der fantasie nicht andere schüler schuld, die waren einfach nur doof und vernachlässigenswert…… aber meine damalige streng religiöse lehrerin habe ich durch jedes biblische höhlen und fegefeuer gewunschen….. breugel hätte meine freude gehabt….
die 80er waren rundum ein ganz komisches ding. ich fand die hölle mit 18 deutlich schlimmer als mit 14. zu hohe amplituden zwischen glück und unglück. als ich nicht mehr wußte ob ich das alles wollte bin ich im herbst nach sylt gefahren und bei sturm mit meinem surfbrett so weit raus, dass ich die kleine insel nur noch auf den wellenkämmen sah. ich glaube es gibt wenig einsamere orte als das meer im sturm [daran mußte ich letztens immer denken, als das arme mädchen auf der gorch fock über bord gegangen ist. da zieht sich bei mir wirklich alles alles zusammen]. dann habe ich mich aufs brett gesetzt und überlegt ob meine kraft reichen wird um zurückzukommen. und ob ich sie überhaupt aufbringen will. es sollte wie ein unfall aussehen, weil ich die überflüssigen fragen nach schuld und unschuld niemanden ins leben schreiben wollte. denn: niemand wäre es schuld gewesen. es gab keinen konkreten anlass. es war die summe des unüberwindbar scheinenden ganzen. ich weiß nicht genau, wie lange ich auf dem brett saß. vielleicht 20 minuten, vielleicht 2 stunden. als ich am strand auf meine knie fiel war ich jedenfalls durchgefroren bis auf den letzten knochen. der erste tag in meinem neuen leben begrüßte mich mit hagelkörnern auf mein gesicht.
seitdem bin ich ein herbst-typ. wenn’s draußen stürmt und eiskalt regnet bekomme ich gute laune. mit diesem tick bin ich wahrscheinlich der einzigste mensch auf dieser welt.
REPLY:
apropos pupertät ist eine krankheit……
und noch immer hat die forschung noch kein gegenmittel gefunden das wirklich die ursachen bekämpft!
auch so eine zeit gehabt dass ich zu forschen begann wie ich mich am besten und einfachsten aus dieser welt befördere, *krank* war ich sowieso schon immer….. aber dann traf ich auf ein anderes buch….. wie bringt man jemanden um! ich meiner fantasie habe ich die ursachen meines übels auf tausende von unarten umgebracht! nur schon der gedanke daran war auch hilfreich. auch zuwissen warum man selber abtreten soll wenn andere schuld an deinem elend sind weil sie dich piesacken.
REPLY:
frau mai, jetzt haben Sie gerade die anatomie eines schulmassakers geliefert. (pubertät ist ne krankheit.)