Ende der 60er, irgendwo in den Südstaaten der USA. Sommer. Joe Buck weiß Bescheid. Vor Selbstüberzeugtheit (nicht Selbstüberzeugung) strotzend, sehen wir ihn unter der Dusche, wo er sich singend für seine bevorstehende Reise schrubbt und wienert. „Get along, little doggies…“ Dann packt er strahlend die frisch erworbenen Cowboystiefel mit steil-schrägen Hacken und goldenem Knöchel-Emblem aus dem Karton, zieht das bunte Country-Hemd an, setzt den schwarzen Cowboy-Hut auf und begutachtet sich begeistert im Spiegel. Er ist soweit.
Mein angeblich enzyklopädisches Hollywood-Wissen ist voller blinder Flecke. Ich habe kaum einen Western oder Kriegsfilm zu Ende gesehen. Selbst die DVD von „Apocalypse, now“ im Director´s Cut hatte ich vielleicht zwei, drei Mal in der Hand, habe sie dann aber immer ins Verkaufsregal zurückgestellt. Filme über organisierte Kriminalität (also alle „Paten“, sowie, im TV, die „Sopranos“) kenne ich nur aus Büchern. Scorsese und so? Ähem, nö.
Dann kam Corona (nicht Coppola). Es wurden immer weniger Filme im Kino, immer mehr minderwertige Filme auf Netflix. Meine Klassiker-die-immer-gehen hatte ich nun auch schon tausendfach gesehen, ich brauchte etwas Neues. Und so schlichen sich die von mir bislang weitestgehend ignorierten Filme der 70er ein. Den Anfang machte ein bewährter Liebling, der zwar erst 1980 in die Kinos kam, aber immerhin noch in den 70ern konzipiert und umgesetzt wurde. William Friedkins „Cruising“, den es nun endlich auf BluRay in einer großartig restaurierten Fassung gab. Obwohl bereits ein Dutzend Mal gesehen, fiel mir dieses Mal zuerst auf, dass nicht nur die Rolle des Mörders von verschiedenen Schauspielern gespielt wurde (übrigens auch von den Schauspielern der Mordopfer), sondern dass auch die Darsteller der Polizisten in den schwulen Lederbar-Sequenzen Auftritte hatten. Bei seiner Erstveröffentlichung (und bereits davor) hatte der Film großen Aufruhr in der Schwulenbewegung ausgelöst, da man hier befürchtete, dass dem Betrachter suggeriert würde, dass das schwule Leben überall so sei wie in „Cruising“ dargestellt. 10 Jahre nach Stonewall wollte man nicht unbedingt den Schwulen portraitiert sehen, der sich in der Lederbar im Poppersrausch neben der Tanzfläche im Swing fisten lässt. Man war noch emsig damit befasst, sich von Stereotypisierungen zu befreien, da sollte es nicht ausgerechnet auf diese hinauslaufen. (Meiner Meinung nach ist das schwule Sex-Party-Leben nie ehrlicher und zutreffender dargestellt worden als in Friedkins Meisterwerk.) Versprechend, auf „Midnight Cowboy“ zurück zu kommen, aber meine Klammer nicht außer Acht lassend, mäandere ich zu den anderen Filmen der 70er, die mir sprichwörtlich wieder auf den Schirm kamen. „Deliverance“ beispielsweise, in dem eine kleine urbane Männergruppe nochmal mit dem Kajak rausmöchte, auf eine Flussfahrt, die bald nicht mehr möglich sein wird, weil ein Stausee gebaut werden wird. „Eden Lake“, anyone? Baulandschaften, Flussszenen und ein Hinterland mit Zurück-gebliebenen, denen der Inzest ins Gesicht geschrieben wird, während aus der Männerguppe am Ende Mörder, Hinterbliebene und zumindest ein Vergwaltigungsopfer werden.
Thematisch ganz anders situiert: „Don´t look now“, auf Deutsch fragwürdigerweise betitelt „Wenn die Gondeln Trauer tragen“, mit Donald Sutherland und Julie Christie. Hier war mir vornehmlich die für damalige Verhältnisse sehr ausführlich gezeigte Sex-Szene in Erinnerung und selbstverständlich (Spoiler) der Zwerg im roten Regenmantel. Was ich bei der diesjährigen Betrachtung erstmals wahrnahm: der Zwerg trägt zwar einen roten Mantel, aber keinen Lack-Regenmantel, wie das ertrunkene Kind von Christie und Sutherland. Und: ich hatte bislang den Film an der logischsten Lesart vorbei betrachtet. Sutherland hat das „Shining“. Die unerklärlichen Visionen, die er hat – bereits eingangs ahnt er den Tod seiner Tochter um Minuten voraus, später dann: seine Frau, die eigentlich in England ist, erscheint plötzlich auf einer Trauergondel mit den beiden seltsamen Schwestern, die wiederholten Erscheinungen der roten Kapuze auf den Bildern, die er in der Kirche gemacht hat – alles premonitions, Voraussehungen von Ereignissen, die eintreten werden. (War nur ich so blind oder ging es anderen Betrachtern ähnlich? Ich komme mir vor wie jemand vor, der bei „The Others“ oder „The Sixth Sense“ nicht erkennt, wer die Lebenden und wer die Toten sind. )
Jon Voight, bzw. Joe Buck, der „Midnight-Cowboy“ verabschiedet sich in seinem Sonntags-Cowboy-Outfit von den Mitarbeitern im Diner, wo er als Tellerwäscher tätig gewesen ist. Seinen Wunschberuf bezeichnet er hemmungsfrei und gutgelaunt als „Hustler“. Er möchte sich im fernen New York, wo es so viele alte und reiche Frauen gibt, als Stricher verdingen. Auf seiner Busfahrt, auf der er optimistischer, zuversichtlicher und goldener scheint als Hillbilly Cowboy Beauregard in „Bus Stop“, geht er auf seine Mitreisenden zu, ist er der offene, herzliche Golden Boy im Sonntagsstaat. Rückblenden zeigen andere Stationen seines Lebens. Seine Kindheit im Haus der Großmutter, von der man wohl ungestraft als „altes Flittchen“ sprechen kann. Eine Einstellung, die ihn zwischen Oma und einem abgetakelten Rodeo-Cowboy, alle drei lachend, im Bett zeigen. Nicht minder verstörend, aber immerhin nicht heiter inszeniert, kommen im Lauf des Films weitere Rückblenden hinzu. Er beim Sex mit einer Frau, die ihm schwört, er sei der Einzige – was in einer anderen Rückblende widerlegt wird: sie lässt sich regelmäßig von wechselnden Kerlen hinterm Kino durchorgeln. Joe und die Frau, nackt, wie sie beim Sex unterbrochen und von einer Gruppe gewalttätiger Betrunkener aus einem Auto gezerrt und einzeln vergewaltigt werden. Später im Film eine Rückblende: Joe in Army-Uniform, stolz und shiny all-American vor dem Haus seiner mittlerweile verstorbenen Großmutter.
In New York angekommen, gestaltet sich die Umsetzung seines Berufswunsches als nicht ganz so einfach wie in seiner Vorstellung. Seine erste Freierin (grandios und Oscar-nominiert: Sylvia Miles) bricht nach dem Sex in Tränen aus, nachdem er bei ihr Geld einfordert. Statt von ihr bezahlt zu werden gibt er ihr 20 Dollar Taxi-Geld. Ähnlich naiv verläuft auch das Kennenlernen mit dem Kleingauner Ratso (Dustin Hoffmann). Dieser knüpft ihm den letzten Cent ab, so dass aufgrund seiner plötzlichen Verarmung Joes Glanz zu bröseln beginnt (seine feine helle Fransenwildlederjacke, die er den gesamten Film über trägt, beginnt zu verschmuddeln). Irgendwie will das mit dem Prostituieren nicht so recht klappen – selbst auf dem Schwulenstrich erwischt er einen Kunden, der ihn zwar blasen darf, aber der leider nicht dafür zahlen kann. Joe ist sauer, dass er nicht den verdienten Lohn bekommt, aber irgend etwas in ihm schimmert noch golden, noch immer gibt es für ihn die Hoffnung auf Erfüllung seiner Verheißung, und so schlägt er den Hornbrillenträger nicht zusammen und lässt ihm auch die Armbanduhr. Wie schlecht er im schlecht-sein ist, merken wir spätestens, als er sich mit Ratso versöhnt und dieser ihn bei sich in einer finsteren, syphigen Wohnung in einem Abrisshaus aufnimmt. Ratso, der eigentlich Rocco heißt und auch so genannt werden möchte, ist der verkrepelte, verkrüppelte, hustende, fiebrig schwitzende Abschaum New Yorks. Joe wird ihm ein treuer Gefährte. Für Joe beginnt es gut zu laufen – schmuddelige Fransenjacke hin oder her. Eine Untergrundlegende, gespielt von Warhol-Protagonisten Viva, entdeckt die Schönheit in Joes Landgesicht, fotografiert ihn und lädt ihn auf eine Künstlerparty. Ratsos ohnehin katastrophaler Gesundheitszustand verschlechtert sich. Auf der Party raubt Ratso ein paar Portemonnaies, während Joe seinen ersten Marihuanarausch erlebt und tatsächlich seinen ersten Stricher-Job landet. Zunächst impotent, vollzieht er den Akt schließlich, als der Sex etwas rauer und gewalttätiger wird. Er sieht sich nun, da seine Freierin ihn auch noch weiterempfiehlt, als gemachten Mann. Sein Lebenstraum – Stricher in New York – ist wahrgeworden. Während Ratso vor sich hinstirbt und Joe ihm noch seinen Lebenstraum erfüllen möchte. Ratso und er und viele reiche, alte Frauen in Florida!
Um ans Reisegeld zu kommen, versucht nun erstmals Joe sich als Gauner. Ein potentieller Freier, ein ältlicher Familienvater auf Geschäftsreise, nimmt den Stricher mit auf´s Hotelzimmer. Hier kommt es zu einer Auseinandersetzung, als der Kunde nicht ausreichend Geld für die Busfahrt aufbringen kann. Die Kamera lässt offen, aber dennoch vermuten, dass Joe den Mann brutal ermordet. Er erschlägt ihn und stopft ihm den Telefonhörer in den Rachen – letzteres wäre nicht unbedingt nötig gewesen, um an dessen Portemonnaie zu gelangen. Ein Hinweis also, dass da nicht nur das goldene Lichtlein reiner Herzensgüte in Joe schimmert.
Im Bus nach Florida wacht Ratso-Rocco in seinem eigenen Urin auf. Joe witzelt, der Freund habe seine Pinkelpause lediglich vor der Pause gemacht – beim nächsten Halt besorgt er ihm frische Kleidung. Auch das eigene Cowboy-Outfit wandert in die Mülltonne. Im Kurzarm-Polyester-Hemd und hellen Hosen sieht er nach einem jungen Familienvater aus: frisch, fröhlich, formidabel. Kurz bevor die beiden Miami erreichen, bemerkt Joe, dass Rocco neben ihm im Sitz gestorben ist. „Kann man jetzt nicht viel machen“, kommentiert der Busfahrer unter bestürzten und betroffenen Blicken der Mitreisenden, und so wird Joe in wenigen Minuten in Miami eintreffen, mit der Leiche seines Freundes im Nebensitz.
Was war DAS? Fragte ich mich, nachdem ich mir ein Tränchen aus dem Augenwinkel gewischt hatte. Titten, Drogen, nackte Ärsche. Stricher, Flittchen, Vergewaltigung, Totschlag. Langsame wie schnelle Tode. Harter Sex und Impotenz. Schmutz, Gewalt und – Liebe. Der Veteran mit der kaputten Kindheit und dem nicht minder kaputtgegangenen Liebesleben, wieviele Leichen hat er im Keller seiner Seele, wieviele auf dem Schlachtfeld hinterlassen? So unendlos viele Möglichkeiten, aufzugeben, drauf zu kommen, sich ab- oder weg- oder tot zu schießen. Ein Vollbad im Abschaum der Kriminellen und Stricher der 42nd Street. Und Joe taucht tief hinein, schlägt um sich, aber taucht auch wieder auf. Er hält ein Maß an Kaputtheit aus, er ist biographisch vielleicht das größte Opfer in dieser Geschichte, aber er hält an seinem Traum fest. Und als er die Wahl hat, in seiner glücklichen Stricher-Identität weiter zu machen oder Ratsos Traum von Florida in Erfüllung zu bringen, koste es auch ausufernde Gewalt, da entscheidet er sich für Ratso. Sein Traum in Gestalt von Cowboy-Hut und Stiefeln wird in den Müll gestopft und trotz der Erschütterung, die er über Ratsos Tod empfindet, weiß man, es wartet ein neuer Traum auf ihn und man wünscht ihm nicht nur, dass er für ihn wahr wird. Man weiß es.
„Midnight Cowboy“ ist bis in die kleinste Nebenrolle herausragend geschrieben und besetzt. Die Junkie-Mutter mit kleinem Sohn im Diner, der hornbebrillte Schwule im Kino, der irre Prediger, Schlesinger präsentiert ein Kaleidoskop New Yorker Weirdos, zu denen sich Joe in seinem albernen Outfit eine Weile hinzugesellt. Anders als die anderen entkommt er dem Sumpf. So schadlos, wie er die Kindheit überstanden hat. Die Vergewaltigung. Den Krieg.
Ich habe mich natürlich in Joe verliebt, und das, obwohl ich kein Fan von Jon Voight war. (Jetzt bin ich es.) Ich verehre John Schlesinger dafür, wie er es zaubert, dass sich die Zuversicht, die Joe verkörpert, im Verlauf der Erzählung auf den Zuschauer überträgt. Das ist es, dort ist es, wo einen der Film anfasst. So etwas gelingt nur großen Meisterwerken. Die Szene, in der Joe einen wehrlosen Mann auf brutalste, widerwärtigste Art und Weise demütigt, prügelt und vermutlich tötet, ist allerdings ebenso Bestandteil der Geschichte. Dass diese Szene sich immer wieder als Gewissensbiss emporreckt, wenn man mit Joe und für Joe die Zuversicht behält, setzt dem Meisterwerk die Krone auf.
„Get along, little doggies“ sang Joe eingangs unter der Dusche. In der Cowboyballade heißt es auch „Oh, little doggies / It’s your misfortune and none of my own…“