„Character One: Susan“ Ein Film von Tim Lienhardt
Ich sitze an einem Tisch im Bar-Vorraum des schrammeligen Friedrichshainer Ladenkinos, trinke eine Mate, um mich herum mittelalte Männer mit ebenfalls alkoholfreinen Getränken, ja ja ja. Die Partykids der 90er geläutert. Seit ich den ersten Trailer vor einem Jahr gesehen habe, warte ich auf eine Gelegenheit, „Character One: Susan“ von Tim Lienhard zu sehen. Der Trailer zeigt, wie Sie oben sehen, eine Loreneske Diva, die durch Kunstlandschaften schreitet wie ein Ozelot in Zeitlupe, begleitet von schillernden Fantasiewesen, die sie umgeben wie mindere Satzzeichen, die das Ausrufezeichen, das sie darstellt, wie Planten umkreisen dürfen. Eingeschnitten sind diese Fantasy-Tableaus in die Darstellung der privaten Titelheldin. Susan Angelini, It-Girl der Partyszene der 90er-and-then-some. Heute lebt Susan in einer Ein-Zimmer-Wohnung in einem Berliner Hochhaus. Sie ist nicht ganz so coiffiert und gestylt wie in den Clips, aber ein viel herausragenderes Charakteristikum dieses Wesens kommt in den Interviews und Aussagen zum Vorschein. Man kann sich ihrer Präsenz kaum enziehen. Sie quatscht nonstop und zwar den Zuhörer um den Finger. Von Drogen, von Party, von erfahrenem Missbrauch im Kindesalter. Ich bin kein Opfer. Ich bin ein Survivor, sagt sie. „Schizo-affektiv? Bipolar? Manisch depressiv?“ Sagt sie auch. „Man konnte sich ihrem Charme nicht entziehen.“ Exakt.
Die Tür des Ladenkinos öffnet sich und meine alte Bekannte Imke, die ich seit ca 15 Jahren nicht gesehen habe, scannt kurz den Raum, unsere Blicke treffen sich, sie packt mich am Schlafittchen, schafft Stühle heran, bestellt Getränke, stellt mich den anderen Gästen am Tisch vor, alles in einer Sturmflut, wie sie nur eine Frau von der Küste hinbekommt. Obwohl ich von all dem wegen monatelangen sozialen Rückzugs etwas an die Wand geklatscht bin: es fühlt sich nicht schlecht an, an dieser Wand, und Imke gelingt der Trick, einem die Inhibition zu nehmen, in dem sie alle Anwesenden miteinander verstrickt und verknüpft, als hätte es nie eine andere, bessere Tischrunde gegeben. Sowas kann man nicht lernen, sowas hat man oder nicht. Imke hatte, hat und wird haben.
Ein weiterer Tsunami wäscht über die Bar, in Gestalt von Susan. Natürlich hat sie Entourage, aber wer das Auge im Sturm ist, steht fest. Unübersehbar, unüberhörbar. Alle alle Augen auf ihr, als sie den Raum betritt, so wie Edina Monsoon aus einem Auto fällt. Imke ruft „Susan!“ durch den Raum, die beiden Charaktere schauen sich an, durchmessen den Raum mit ihren Raubtierschritten, ich werde der Titelheldin vorgestellt. „Du gefällst mir! Dich mag ich!“ bekomme ich als Gesprächseröffnung, ohne nur mehr als Hallo zu ihr gesagt zu haben. Sie spricht mit meinen Smokey Eyes, nicht mit mir. Es erinnert mich daran, wie ich mit Anfang 20 betrunken auf Leute im Club zugegangen bin und dasselbe gesagt und getan habe, aus tiefster momentaner Überzeugung.
„Wer kann eine Flasche Bier mit einem Feuerzeug aufmachen?“ fragt eine Mitarbeiterin der Produktionsfirma. Ich melde mich. „Du sitzt neben Susan!“ „Susan, Volker sitzt neben Dir!“ „Du gefällst mir. Dich mag ich.“ Die Filmfrau drückt mir das Bier für Susan für-wenn-der-Film-läuft in die Hand. Ich schau etwas verloren in die Runde. Imke schaut besorgt. Ich beschließe, mir auch ein Bier zu holen, muss dazu an Susan vorbei, lege ihr kurz die Hand auf den Rücken, um sie nicht anzurmepeln. „PACK MICH NICH AN!!!“ schnauzt sie. Oh, denke ich.
„Ein Tutzi. Ein Tutzi! Ich habe ein Tutzi im Taxi verloren“. Zu unserer Nachvollziehbarkeit entfernt sie das zweite „Tutzi“, das in ihrer Frisur eingearbeitet ist, und steckt es sich wieder an. Etwas schwarzes, glittrig antenniges. Wir betreten den Kinosaal, Imke zieht mich geschickt zur Seite, auf den Platz, den sie für mich gesichert hat, ich reiche Susans Pausenbier an einen hübschen jungen Mann und deute ihm an, sich zwei Reihen vor uns neben sie zu setzen.
Susan dreht sich um, scannt, sieht mich, „Wo bist Du?“ ich deute auf den Mann neben ihr und halte meine Bierflasche hoch, und schon ist sie wieder abgelenkt, und schon beginnt der Film.
Ob es Segen oder Fluch ist, den Film mit Live-Kommentar von Susan Angelini gesehen zu haben, möchte ich mir selbst nicht beantworten. Da bin ich bipolar in meiner Antwort wie sie in ihrer Persönlichkeitsstruktur. „Einzigartig“ trifft es. Gewohnt an und begeistert von Dokumentationen über Exzentriker – die Maysles über die Beales, Werner Herzog über Kinski und den „Grizzly Man“, erweitert es den Doku-Horizont, den Film in Anwesenheit seiner Titelheldin zu sehen. „Drei Stunden hat das Make-up gedauert“ schrächzt sie in den Mini-Kinosaal und lindert ein wenig die schöne Illusion der Diva auf der Leinwand. „Das ist eine reine Inszenierung des homosexuellen Regisseurs!“, als die mythisch androgynen Kreaturen mit ihr die Leinwand teilen. Dann thematisiert sie die schlechte Bezahlung, die sie für den ganzen Aufwand bekommen hat, richtet sich immer wieder an die Zuschauer in den Reihen hinter ihr. Fordert ein weiteres Bier, das eine Filmgängerin bereitwillig für sie organisiert. Das alles könnte Trainwreck sein, ein Unfalls, dem man als Zeuge beiwohnt, von dem man den Blick nicht abwenden kann. Aber dennoch empfinde ich Zuneigung zu dieser Person. Und zu diesem Regisseur, Tim Lienhardt, der ihr, der alten Partyfreundin, diese Inszenierung verehrt, ihr gleichzeitig den Raum ihrer zerstörerischen Selbstdarstellung geliefert hat.
Ich erinnere mich an die Party-FreundInnnen in meinen Zwanzigern. Wir alle waren glamourstrotzende, uns-für-einzigartig-haltende Erscheinungen in dieser Nachtwelt, die den Alltag so annihillerte, dass man die Nacht in den Tag rüberrettete, alles entwieder liebte oder hasste, nix dazwischen, eine schillernde Bubble des austauschenden, parallel gelebten Narzißmus. Wie man sie eben verdient, wenn man jung und hübsch ist, die Welt aber böse und alt. Und so, so spießig.
Die Glamour-Susan mit dem hübsch toupierten Haar, den wallenden Gewändern, perfekten Katzenaugen und außergewöhnlich gut gespritzten Lippen: Die ist eine Liebesbekundung von Lienhard an Angelini. Die ist Sinnbild der jugendlichen Verehrung, die wir verspürten, wenn wir, Anfang Mitte 20, auf Droge oder nüchtern, einem Menschen begegneten, dessen Charisma und Schönheit uns den Boden unter den Füßen wegzogen, wo wir dann mit diesem Glitzerwesen freudvoll taumelten und uns vielleicht wieder fingen, wobei dies in jenem Moment des lustvollen Taumels gaaanz gaaanz weit weg war.
Susan wird einem durch den Film nicht sympathisch. Aber sie fasziniert. Ich empfinde Bewunderung für ihr Mundwerk, ihre anhaltende Macht, einen Raum zu kontrollieren, aber auch Sorge, die sich nicht in Fürsorge verwandeln darf. Ich bin erleichtert, meine für-wenn-der-Film-läuft-Bierflasche abgegeben haben zu können, dank Imke, die 30 Jahre Berlin – wer wir waren, wer wir sind – genau blickt. Was wir uns (noch) antun können oder nicht sollten. Wir sind in unserem Alter alle Überlebende.
Sollte der Film in Ihrer Stadt laufen – Anschauen! Wenn nicht, fahren Sie in die nächste Stadt, in der er läuft.