Seit meine Tante M. im Sterben liegt tägliche Telefonate mit den nahen und ferneren Verwandte. Wem bringt man es wie bei? Meine Schwester und ich beschließen, unsere Cousins und Cousinen anzurufen, damit diese zu ihren Müttern – den Schwestern der Sterbenden fahren und es ihnen persönlich beibringen können. Es folgen weitere Gespräche, mit den Tanten, alles natürlich hochemotional und traurig. Die nächste Runde dieser Telefonate erfolgt, als die M. verstorben ist. Die Familie meiner Mutter hat aufgrund einer ziemlich drastischen Kindheit einen engen Zusammenhalt, nicht immer nur im Positiven Sinne. Wenn eine der anderen mal böse ist, dann so richtig und dann kommen die Ausgleichsversuche, vorsichtige Schlichtungen, die meist nach hinten losgehen. In so ein wankendes Gleichgewicht kommt nun die Todesnachricht. Ich beschließe, meinen Besuch in der Familie vor zu verlegen und reise schon am Mittwoch an. Am Ende der Woche wollte meine Schwester einen runden Geburtstag mit 80 Gästen feiern, was nun? Die M. wäre die erste gewesen, die sich gegen eine Absage eingesetzt hätte, und auch die logistischen Gründe sprechen dagegen – die Location und das Catering sind bestellt, die Gäste haben Zimmer gebucht. Es wird beschlossen, die Feier durchzuführen.
Meine Anwesenheit besteht aus Stärkung der Eltern und Kondolenzbesuchen bei meinen Tanten. Hinzu kommen die Kondolenzbesucher, die meinen Eltern ihr Beileid aussprechen. Zwischen Informationsabgleich in der Familie und Einspringen bei der Partyvorbereitung zwischendurch immer wieder Rückenstärken, Tränen wischen und in der Trauer bestätigen, man hat ja jeden Grund.
„Die M. hatte als Kind immer so furchtbare Angst vor der Dunkelheit. Wenn die in den Keller musste, dann hat sie jedes Mal gepfiffen.“ Dann weint meine Mutter. „Und wenn ich mir vorstelle, wenn ihr Mann sie wieder angeschrien hat, dass sie dann nachts durch die Straßen gelaufen ist, in der Stadt, nej. Dass sie den 50 Jahre ausgehalten hat, nej.“
„Sie hat mir mal gesagt – vor Gott habe ich gesagt mein Leben lang. Und da hat sie sich dran gehalten. Die war doch religiös. Hat man nicht immer gemerkt, aber war sie.“ Tante E.
Trauer und Anspannung pegeln sich in den folgenden Tagen, tarieren sich aus. Verdrängung spielt dabei eine wichtige Rolle – das ist der Preis für die Waage.
Das oft vermiedene Gespräch findet statt: wie wir einmal bestattet werden wollen. Im Familiengrab sei noch Platz für drei Urnen. Der Wink mit dem Friedhofszaunpfahl. „Eigentlich will ich verstreut werden. Lucky und Skailight wissen Bescheid, wo. Aber das ist wohl nicht legal.“ (Son bisschen Restasche kann man gern für´s Familiengrab in lassen, aber auch nur, falls es mich vor meinen Eltern erwischt.)
Bei all diesen konkreten Gesprächen spielt aber auch immer die Frage des eigentlichen Sinnes mit, die eigene Sterblichkeit und die der Geliebten rückt ganz schrecklich nah. Ich schaue hinaus in den Garten, der Flieder blüht, Bienen brummen, Vögel zwitschern und ich fühle mich so alt.
Die Geburtstagsfeier findet auf der Domäne in einen ehemaligen Brauhaus statt. Alles auf eine edle Art gediegen. Ich sitze an einem Tisch mit drei Cousins, mit denen ich in den letzten Jahren kaum gesprochen habe. Ich spreche wenig mit heterosexuellen Männern. Wenn mich einer anspricht geht es okay, aber eine verselbständigte Form veräußerlichter Homophobie hält mich davon ab, Männer anzusprechen. Ich befürchte auf Ablehnung zu stoßen – dass man von mir angemacht zu werden befürchtet. (Familien- und Herkunftsdynamiken, I tell you.) Um so überraschender, dass die Gespräche alle sehr positiver verlaufen und zumindest 2 von den 3 Cousins wirklich angenehme Erwachsene geworden sind.
Ich mache Selfies mit meinem Vater und schau meiner Mutter zu, wie sie die Feier genießt, aber auch manchmal von der Trauer eingeholt und überwältigt wird. Die Gefühlsachterbahn der Woche wird hier noch einmal beschleungigt und die Loopings noch dramatischer.
Eine meiner Lieblingsfamilien erscheint verspätet mit den beiden jüngsten Kindern, sie 13, er 16. Ich hatte mich in die Eltern schon auf der Hochzeit meiner Schwester verliebt und bei jedem Anlass, an dem wir uns wiedersehen – oft liegen Jahre dazwischen – ist die Verbindung sofort wieder hergestellt. Sie sind reich ausgestattet mit dem Charisma-Gen, das auch bei der Tochter geradezu verschwenderisch vorhanden ist. Sie sieht aus wie eine Bronte-Figur, ein feines Gesicht mit schmaler Nase, üppige lange Haare. Und auch der Sohn strahlt Lebensfreude wie 1000 Sterne. Er heftet sich den ganzen Abend über an mich, meist um Tabak zu schnorren, aber auch, weil er sich mit mir unterhalten möchte. Als ich meinen gerade 18 gewordenen Neffen dabei ertappe, wie er geschafft in einem Sessel hängt und zu „Take me to Church“ lipsyncht, filme ich ihn heimlich. Bis der Sternenjunge eingreift, sagt „Glammy – ich seh Dich gar nicht!“ Meinen Arm mit der Kamera greift und auf sich hält. Dann lacht er in die Kamera, mit einer Zuversicht auf das wunderbare Leben und seinen gefundene Platz darin. Er nimmt mir das Handy ab und schießt ein Foto von mir.
Leben, Tod, Trauer, Freude, Stärke, Schwäche, Lachen, Tanzen, Weinen. Werden. Welken. Werden. Die Woche war proppenvoll damit. Als ich am Sonntag abreise und auf der Rückfahrt die neue Florence höre laufen dann bei mir die Tränen, die ich zuvor, Stärke vorspielend, Rücken deckend, zurück gehalten habe. Have I built this ship to wreck? It´s built for all of us, this way, isn´t it?
Schön! Das volle Leben. Ja. Leben!