STATT EINER INVENTUR: DIE GESCHICHTE VON KATHARINAS BRUDER

Zwei Tage ohne Blog und trotzdem merke ich nach dem Aufwachen, dass ich im Flow-Modus bin. Ein Jahres-Rückblick-Text entsteht im Kopf, und ich merke im gleichen Moment wo das automatisierte Bloggerhirn die Sätze reiht, dass ich ihn nicht schreiben will. Meinen 2005er Text schreibe ich frühestens 2007. Was vielleicht damit zu tun hat, dass es ihn bröckchenweise schon gab – jeden Tag ein wenig aktuelles und akutes – und dass 2005 so ein Klopperjahr war, dass ich es nicht auf eine Seite quetschen mag, weil zuviel passiert ist. Inventur fand im Wochenrhythmus statt. Gewinne und Verluste wurden verbucht, im Adressbuch wurde Platz geschaffen und sofort neu belegt, Re-Evaluation und Re-Invention waren Tagesprogramm. Die schönen Momente habe ich schon festgehalten, die schrecklichen ebenso, und für den komplexen Mittelteil im 6wöchigen Exil gab es den SeitenBlog.
2005 endet mit einer essentiellen Frage, die ich mir selbst gerade nicht beantworten möchte. Will ich weiter schreiben, um damit Geld zu verdienen, oder reicht es mir, meine bizarren Betrachtungen hier zu verschenken? Für die Beantwortung muss ich erstmal Wut und Enttäuschung ablegen, um irgendwann rational an das Problem heran zu gehen.
Eine Geschichte lässt mich nicht los. Sie hat nichts mit mir zu tun und scheint mir trotzdem Sinnbild für 2005. Meine Haushaltshilfe Katharina aus der Ukraine erzählte sie mir kürzlich, als ich schon im Mantel an der Tür stand.
Es war der 20jährige Todestag ihres Bruders, der bei einem Militäreinsatz sein Leben gelassen hat. Sein bester Freund aus Kindertagen saß im selben Panzer und überlebte. Die Leiche ihres Bruders wurde nach Hause gebracht, eskortiert vom sprichwörtlich todtraurigen Freund. Der Sarg war auf Militätgeheiß verschlossen und Katharinas Mutter brach es das Herz, dass sie ihren Sohn nicht ein letztes Mal anschauen durfte. Der beste Freund gelobte, dass sein Leben nicht mehr lebenswert sei. Drei Monate später geriet er in ein Unwetter und wurde vom Blitz erschlagen.
Den toten Sohn nicht noch einmal gesehen zu haben ging der Mutter nicht mehr aus dem Kopf. Ein halbes Jahr nach seinem Tod ging sie an sein Grab und hub es eigenhändig aus. Sah ihren Sohn, der – vielleicht gibt es doch einen Gott, wenn dann ist er borderline-manisch-depressiv – völlig intakt und wie gerade eingeschlafen aussah (das ist es jedenfalls, was sie Katharina erzählte). Beruhigt konnte sie das Grab wieder zuschaufeln. Bis heute trägt Katharinas Mutter schwarz und in ihrem Haus darf keine Musik gespielt werden. Auch Katharina weinte beim Erzählen, denn mit ihrem Bruder hatte sie eine tiefe Freundschaft verbunden.

Der Zyniker in mir fragte sich beim Zuhören, ob das alles der Wahrheit entsprechen konnte. Der emotionale Glam ging tränenüberströmt aus dem Haus. Der rationale Herr Dick dachte über das Jahr 2005 nach und darüber, was es alles so mit ihm angestellt hatte und schenkte Katharina Glauben – er hatte selbst eine ukrainische Großmutter gehabt und wusste um das Durchsetzungsvermögen und den situationsbedingten Dramatismus der Österreich-Ungarn-Geborenen. Selbst wenn die Geschichte möglicherweise ausgeschmückt war, was ich Katharina nicht unterstellen möchte – STATES OF MIND ARE REAL ENOUGH. Drama gibt´s. Nicht nur Wunder gescheh´n. Aber niemals niemals darf man die Musik ausstellen.

2 Gedanken zu „STATT EINER INVENTUR: DIE GESCHICHTE VON KATHARINAS BRUDER

  1. sabbeljan

    aber schenken macht doch spass, werter glam. bitte beschenken sie uns weiter. gedruckte und gebundene werke von ihnen wuerde ich auch kaeuflich erwerben. – aber eigentlich wollte ich ihnen auch noch ein durchgehend wunderbares jahresendfest wuenschen.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert