MUSIC oder EIGENTLICH SOLLTE DIES DER BOWIE-TEXT WERDEN UND JETZT SCHREIB ICH DOCH WIEDER NUR ÜBER MICH

Nach meinem Selbstmordversuch mit 14 begann ich, mein Leben nicht mehr nur zu ertragen, sondern zu gestalten. Da ich nicht mehr das Kind sein wollte, das geschubst und bespuckt wird, musste ich mir starke Freunde suchen (das mit der eigenen Stärkeentwicklung sollte ich erst später begreifen). Ich suchte mir die schrillsten Mitschüler aus und beschloss, mich mit denen anzufreunden. Dazu musste ich erst einmal selbst schrill werden, bzw. meine innere Fragmentierung auf meine pubertierenden Oberfläche projizieren. Das war leicht. Erst einmal weg mit dem Babyspeck – das geht prima, wenn man mit dem Rauchen anfängt und auf ein paar Mahlzeiten verzichtet. Dann entwickelt man einen nonkonformen Look durch eigenwillige Frisur, macht ein Statement mit Mode (um den Stil zu etablieren muss man ihn eine Weile konsequent durchziehen und ganz ganz selten gegensteuern und statt ausschließlich schwarz beispielsweise mal eine blaue Blume am Revers oder ein weißes Hemd tragen).
Die Metamorphose vollzog ich binnen eines halben Jahres und mithilfe des „Face“-Magazines. Ich orientierte mich am New-Romantic-Look, der für mich null mit Romantik zu tun hatte. Aber ich konnte mir das Gesicht zuschminken, mich entfremden, verfremden. Stellen Sie sich Tokyo Hotel einfach 1983 ohne Plattenvertrag vor. That was me. Early Glam. So gewann ich dann schließlich die Aufmerksamkeit der Rauchereckenschüler. Früher war man auch auf mich aufmerksam gewesen, aber eben nicht positiv. Jetzt konnten die Blicke -gute, böse- an der gestalteten Oberfläche abperlen, ich bot ihnen einen Anlass, so dass sie sich nicht bis auf meine innere Andersartigkeit herabbohrten. Zeitgleich wurde ich in der Schule eher mittelmäßig. Das gehörte zur Selbstinszenierung, weil plötzlich andere Dinge zähten, als Vokabeln zu lernen (immerhin war ich im Englischen (vermutlich wegen „The Face“) so gut, dass ich bei Vokabeltests immer Synonyme für die nicht gelernten Begriffe fand, was meine Englischlehrerin immer etwas auf die Palme brachte). Nicht-so-gut-sein schien cooler als Einsen zu schreiben. Trotzdem heulte ich bei meiner ersten 5.

Anke war die Coolste von der Schule, war ein Jahr älter als ich und wurde meine beste Freundin. Sie sah aus wie die Film-Christiane F. und perfektionierte diesen Look gnadenlos und stilsicher. Ihr Haar war lang und rot. Extra-enge Jeans wurden noch einmal abgenäht. Hackenstiefeletten. Man erkannte sie auf Anhieb zumal sie eine einzigartige Jeansjacke besaß, auf deren Rücken der Name „Bowie“ prangte. Ja. Bowie. Bis dahin hatte ich fast nur Frauen gehört. Blondie, Kate Bush, wisst Ihr ja. Und dann eröffnete Anke mir das Bowie-Universum. Gerade als er 1983 mit „Let´s Dance“ und der „Serious Moonlight“-Tour massenkompatibel und Discotauglich wurde. Zuerst dachte ich „was ist das für ein alter blondierter Mann?“ Doch in Ankes Zimmer, bei Tee und Cola, musste ich mir die „Stage“ anhören. Die „Ziggy Stardust Live“. „Aladdin Sane“ (!). Und natürlich den Christiane F.-Soundtrack.
The return of the Thin White Duke, throwing darts in lovers´ eyes. Man muss sich mal vostellen, wie ein 14, 15jähriger Popmusik hört. Texte mitliest und ganz absolut nimmt. Das sind Statements, die man heiratet. Die man nicht mehr loswird. Die mitunter mysteriös scheinen, versprechend, dies über die Jahre bleiben oder nicht. Es gibt Lieder von Bowie oder von Kate, die ich bis heute nicht erklären könnte. Enigmen, die von mir nie ent-täuscht wurden. Und damals war Bowie für mich hauptsächlich Text und Musik. Ich fand ihn nicht sexy. Aber mein Lieblingsdandy wurde er.

Popmusik wird von 14jährigen gekauft. Die bestimmen, was in die Charts kommt, daran hat sich bis heute nichts geändert. Eine Kultur, die an die Risse appeliert, die sich in einem jungen Leben auftun, ist spannend. Erwachsene Menschen mit einer ausgeprägten Liebe zur Musik, die sich die Begeisterung erhalten haben, neugierig die Texte mitzulesen, während die neue CD von XY läuft sind mir sehr sympathisch. Das ist jetzt siche keine Überraschung, schließlich habe ich schon berichtet, wie ich aus dem ersten „Aerial“-hören ein Happening gemacht habe. Ich muss auch nur „Rufus“ sagen.

Wenn ich mich tief erwischen möchte, dann geht das immer mit Musik. Meine Begeisterung beruht auf dieser Berührung innen – a sound that could kill someone, that one dance that can make you break down and cry. Musik reizt meine Seele. Und Judy, Rufus, Kate, David können mich bis zum heutigen Tag so bewegen, die Seele so in Schwingung versetzen, dass ich lachen, tanzen, weinen kann – was der Körper gerade so braucht. Und bringen mich zurück zu meinem 14jährigen Ich. An die Grenze dieser Metamorphose, die zu dem geführt hat, wer und was ich jetzt bin. Die Musik war vor allem auch Eines: Trost. You may be different, you may be mad. But so are we. Because our emotions are intense. Manchmal weiß ich nicht, ob ich Early Glam abschminken möchte oder ihm ein bisschen beim Augenbrauenmalen assistieren. Aber das ist egal. Ich nehm ihn dann einfach fest in den Arm, denn das hat ihm damals am meisten gefehlt.

Inspired by the wonderful Frau Fragmente.

7 Gedanken zu „MUSIC oder EIGENTLICH SOLLTE DIES DER BOWIE-TEXT WERDEN UND JETZT SCHREIB ICH DOCH WIEDER NUR ÜBER MICH

  1. larousse

    „Wenn ich mich tief erwischen möchte, dann geht das immer mit Musik“. Dieser Satz hat mich dan ganzen Tag begleitet. Und ich habe heulend im Theater gesessen. Während die Musik meine Seele streichelte.

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  2. kathleen

    Genau. Mit Musik. Und manchmal nur mit Musik, wenn alles andere am Panzer abprallt.
    Für mich gerade – wie auch drüben zu lesen – Archive und The Fray. Vielleicht auch für dich interessant? Weißt ja, wie du mich erreichst.

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  3. lore.berlin

    Die Stadt ist heute wie ein Song und ich bin voll mit Erinnerung. (Klee – die Stadt)

    Musik ist Lebenselixier. Ohne sie, könnte ich nicht leben.

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  4. spango

    kaum lese ich diesen text von dir, schon denke ich an nietzsche.
    „ohne musik wäre das leben ein irrtum.“ hat der angeblich behauptet. diese these möchte ich hier auch mal unterstützend einbringen.

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  5. glamourdick

    REPLY:
    und während ich dein posting lese präsentiert der ipod „young americans“ (das ist das lied aus dem der „dance that can make you break down and cry“ stammt).

    der herr nietzsche umnachtete übrigens im selben schweizer bergdörfli wie der herr nijinsky. auffällig. nietzschinsky. ein ding, oder? ein sehr interessantes dokument ist nijinskys tagebuch, veröffentlicht unter dem titel „der clown gottes“.

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