REISEN MIT MEINEN TANTEN 2

sugar

Sie erkennt auch die anderen. Nur die böse L. und Tante E. nicht, die waren zum Zeitpunkt der Vetreibung aber auch noch nicht geboren. Was aus Michael geworden ist, als die Familie fort war, wollen die Schwestern von ihr wissen. Er sei noch eine Weile in der Gegend geblieben, aber dann nach Zabrze gegangen oder nach Kattowitz, sie weiß es nicht genau. Ein wilder Junge sei er gewesen, immer mit den Falschen unterwegs, er habe sich immer behauptet. Meine Tante W. und ihre nächstjüngere Schwester, meine Lieblingstante, tauschen einen schwer deutbaren Blick aus. Meine Lieblingstante hat ihren Bruder geliebt, verehrt. Er hat sie stolz vorgeführt als seine Lieblingsschwester, es war ein besonders inniges Verhältnis gewesen und jetzt, wo sie der Kowalczyk zuhört und sich an ihre Kindheit erinnert laufen auch ihr die Tränen, aber sie sagt nichts. Welches das Haus sei, fragt meine Mutter und die hutzelige Alte deutet auf die mittlere der drei Ruinen. Auf dem Weg zum Haus laufen jetzt bei allen Schwestern und den beiden Cousinen die Tränen. Die dazugehörigen Männer trotten dazugehörig betreten.

Es ist warm, es duftet nach Land. Das Gras der Wiese reicht uns bis an die Schultern. Das Haus hat keine Tür mehr, die Fenster sind ohne Scheiben, kein Hausstein, wir müssen klettern. Ein alter Kachelofen ist fast vollständig auseinander genommen, die Bodendielen an vielen Stellen herausgerissen.
„Da hinten muss ein kleiner Keller sein, wie ein Schrank in der Erde.“ Und da ist er auch noch. Jetzt sind wir zu zwölft in der Ruine mit den winzigen Zimmerchen, der morschen Treppe. Laufen uns in den Weg. Kameras blitzen, es riecht nach Moder und Verfall. Es ist deutlich kälter als draußen. Ich gehe hinaus, meine Mutter geht an mir vorbei, zu den Apfelbäumen. Ich folge ihr, nehme sie in den Arm und sie weint. Als sie sich etwas erholt hat pflücken wir Äpfel. Sie schmecken einzigartig. Wie nie ein Apfel zuvor.

Ich mache ein Foto von diesen versprengten Gestalten in der polnischen Wallachei an einem Spätsommertag des Jahres 2004. Wenn es schwarzweiß wäre, dann würde es an einen Bergmann-Film erinnern.

Mein Onkel H. macht wieder Witze über die Polen. Die ganze Fahrt lang. Erst nach Auschwitz hält er mal ein paar Stunden das Maul. Tante W. und ihre Cousine L. haben es nicht ausgehalten. Sie haben nach einer halben Stunde kopfschüttelnd das Gelände verlassen und sich in den Bus gesetzt. Dass wir Auschwitz besuchen war für mich Bedingung gewesen. Kaum einer der Familie wollte dort hin – ein Shopping-Tag in Krakau wäre doch viel schöner. Ich lasse mich auf einen Kompromiss ein. Wenn wir schon Auschwitz besuchen, dann möchte Onkel P., der Heuchler und Gatte der bösen L. gefälligst auch nach Tschenstochau und dort in der Kathedrale die „Schwarze Madonna“ besuchen. Auschwitz, wie kann es anders – schockiert uns, berührt uns und bringt uns zum Verstummen. Tante Wanda ist fassungslos, dass man sie so etwas ausgesetzt hat. Dabei war das andere viel schlimmer für sie, und wird noch in den Schatten gestellt werden von dem, was sie erwartet. Ich bin der Schuldige. „Wie der Führer uns behandelt hat, NEIN!“ und meint nicht Hitler sondern den Führer der Auschwitz-Besichtigung. „Nur weil wir Deutsche sind, als ob wir was dafür können!“ Ich möchte ihr eine knallen, tue es aber nicht. Die Böse L. setzt sich zu ihr und legt ihr den Arm um die Schulter. Onkel H. macht den Mund auf aber ich stoppe ihn: „Nein, von Dir wollen wir jetzt NICHTS hören.“ Ich glaube, ihm ist noch nie der Mund verboten worden, ich hätte es einfach schon früher versuchen sollen, denn es klappt einwandfrei.

Im Nieselregen fahren wir weiter nach Zabrze, wo wir eine aufregende Verabredung haben. Mit meinen polnischen Cousins und Cousinen, die ich noch nie gesehen habe. Wir treffen uns am Bahnhof und die Familienähnlichkeit schockiert mich. Gemeinsam besuchen wir das Grab meines Onkel Michael. Da stehen wir nun, die Polen am Kopfende des Grabes, die Deutschen am Fußende. Und wir können ohne Dolmetscher kaum ein Wort wechseln, aber unsere Übersetzerin macht klar, dass die polnische Verwandtschaft uns in ihrer Wohnung zum Essen erwartet.
„Nein“, sagt Tante Wanda. „Da gehe ich nicht mit.“
„Was ist denn jetzt los?“ möchte ich wissen.
„Da könnt Ihr Euch auf den Kopf stellen, das Haus betrete ich nicht.“
„Aber Wanda!“
Doch da macht sie schon auf dem Absatz kehrt und setzt sich in den Bus. Ich bin fassungslos.
„Was hat sie denn jetzt???“
So öffnet sich eine Schublade mit dem Aufschrift Familiengeheimnisse.
„Der Michael hat die Wanda immer geärgert und aufgezogen, die mochten sich nicht.“
„Der hat sie geradezu gequält.“
„Das war doch nur Spaß!“
„Nein, das war wirklich nicht schön.“
„Aber der Michael ist tot. Das sind seine Kinder. Und selbst wenn. Das war vor mehr als sechzig Jahren!“
„Die Wanda kannst Du zu nichts zwingen“, sagt ihr Mann, der es wissen muss. Onkel P. der Heuchler nimmt Wanda in Schutz.
„Na dann essen wir halt irgendwo anders.“
„Ja. Hm.“
„Okay.“
„Ja, wenn die Wanda partout nicht will, was soll man machen?“

Das is der Moment, wo ich entgleise.
„Sagt mal, TICKT ihr noch ganz richtig? Wir sind von Verwandten in ihr Haus eingeladen und Ihr wollt sie beleidigen? Weshalb sind wir überhaupt hier? Es ging doch um Familie?“
„Ja, wenn die Wanda partout nicht will, was soll man machen?“ Der Heuchler.
„Das kann ich Dir sagen. Sie im Bus sitzen lassen.“ Und plötzlich werde ich sogar resolut:
„So. Wer mit mir zur Cousine Essen gehen möchte hebt die Hand. Wer nicht mit will bleibt im Bus oder wir holen ihn nachher am Bahnhof ab.

Und so kam es, dass die Wanda überstimmt wurde und die ganze Familie bei der polnischen Verwandtschaft einkehrte

Die Scham. Die SCHAM. Als wir in der Wohnung der polnischen Verwandtschaft ankommen, sind wir gefloort. Essen Essen Essen. In jedem Raum Buffet. Hierfür haben 4 Menschen tagelang in der Küche gestanden. Beim Gedanken, sie wären ohne uns in die Wohnung zurückgekommen zerreißt es mich innerlich und ich werfe Wanda einen Blick voller Hass zu. Wanda, im Gruppenzwang überstimmt, sitzt auf der Kante eines Sessels und wiegt den Oberkörper hin und her. Das könnte man jetzt für eine literarische Garnitur in diesem Bericht halten, aber es entspricht traurigerweise der Wahrheit. Und ihr laufen die Tränen. Nicht vor Rührung, sondern vor Demütigung. Ihr Arsch sitzt auf dem Sessel des seit 60 Jahren gehassten und längst verstorbenen Bruders. Wie konnte es dazu nur kommen?

Bei der Schwarzen Madonna kriechen die Betenden rückwärts aus dem Andachtsraum.

Bereits auf der Rückfahrt beginnt sich die Familiendynamik zu ändern. Während meine Cousine und ich vergeblich versuchen, Sektgläser zum Mund zu führen, bei 80 kmh auf einer von Schlaglöchern übersäten Autbahn, haben sich die Böse L. und der Heuchler P. ganz der Betreuung der entehrten Wanda gewidmet. Mit soviel Einsatz wie die Kriecher bei der Schwarzen Madonna. Dem H. sind die Sprüche wohl ausgegangen, auch ihn beobachte ich dabei, wie er mit leerem Blick aus dem Busfenster schaut. Die Eindrücke der vergangenen Tage sind gewaltig. Dass die Reise ein Wundenquetschen wird, damit hat keiner gerechnet. Jeder geht auf seine Art damit um.

2008. Die zersprengte Familie hat sich Dank des Trips in die Vergangenheit ein weiteres Mal auseinander bewegt. Wanda kann nicht vergessen, nicht verzeihen. Sie ist zu dumm, um zu verarbeiten. Die Böse L. findet in ihrer Schwester viel Nährstoff für das eigene Vitriol und intrigiert wo sie nur kann. Keiner hat mehr Vertrauen zueinander, alle versuchen den Schein zu wahren, aber plötzlich meiden die Schwestern Familienfeste, rufen sich nicht mehr an. Zur Strafe dafür, dass meine Mutter mich auf die Welt gebracht hat, „vergisst“ Wanda, ihr zum Geburtstag zu gratulieren. Viele kleine albernen Fiesheiten kennzeichnen von nun an das Auseinanderleben. Der Zusammenhalt, der Jahre lang existierte, ist fort und wird auch nicht zurück kehren. Wenn jemand 60 Jahre lang hassen kann, dann wird er die nächten 20 Jahre auch nicht mehr begreifen.

Die Bilder dieser Reise sind für mich noch sehr präsent. Ich schmecke noch den Apfel, den ich auf der Wiese vorm Haus gegessen habe. Die Eindrücke von Auschwitz sind allgegenwärtig geblieben wie Staub. Das Wohnzimmer der polnischen Cousine, die Essensgerüche. Ich sehe meine Lieblingstante und meine Mutter um Fassung ringen, vor der Ruine, die für sie die Idee eines Familienidylls war, das es vermutlich nie gegeben hat, das aber defintiv mit der Vertreibung und dem Leben als Unterprivilegierte im Westen ein Ende gefunden hat. Das Geburtshaus in Scherben zu sehen verlangt einem etwas ab.

Man kann vergessen. Man kann verdrängen und leugnen. Auch sich selbst. Aber es gibt immer irgendwo eine Frau Kowalczyk, die dabei war und die sich erinnert. Darauf muss man gefasst sein. Und wenn man das nicht aushalten kann, dann muss man die Vergangenheit ruhen lassen.

jozefow1

22 Gedanken zu „REISEN MIT MEINEN TANTEN 2

  1. timanfaya

    … diese sehr schön und gut geschriebene geschichte muß ich erstmal sacken lassen, weil sie sich mit einem thema beschäftigt, was mich schon das ganze jahr geistig umtreibt. vergangenheit, leben, tod.

    was ich besonders an der erzählung mag ist der leicht ätzend muffige beigeschmack, den wohl fast jeder von solchen come together familienereignissen kennt – und der an fast jeder stelle der ereignisse fühlbar ist.

    p.s.: an ausschwitz wäre meine familie mit mir übrigens auch nicht vorbei gekommen.

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  2. frankburkhard

    raodmovie!
    roadmovie!
    können wir denn dafür sorgen, daß Glam bitte NICHT von Daniel Brühl gespielt wird ?!
    Lieber von pfff, Nicole Kidman vielleicht 🙂
    dann wird ja auch die lovestory massenkompatibler, die noch dazuerfunden werden muß für die leichtigkeit.
    Muß das auch Till Schweiger machen oder haben wir mittlerweile doch noch EINEN anderen männlichen Sexsymbol-Darsteller im Angebot? (persönlicher Verfasserwunsch: Kostja dings)
    … something mit einem automechaniker an einer raststätte, die der familienbus wegen einer panne aufsucht? Ha! Waschanlage?!
    *schock*: oder ein Security-Mann in der Besenkammer des Auschwitz-Besucher-Büros – DAS gibt ordentlich Presse, da würde Besenkammer zum neuen Autobahn-Synonym…
    ! Oder. Oder, oder! Oder, oder, oder oder, oder! Auf dem Stück Neubrandenburg, das der Bus auf dem Weg zur polnischen Grenze durchquert, kommt es zur Begegnung mit einem jugendlichen Skinhead, genau! vorm Eingang des Lidl-Marktes, in dem Glam sich eine Cola kaufen geht. Der perspektivlose Hartz4Empfänger mit den bösen, dunklen, aber nicht unattraktiven Augen fängt eine Schlägerei an mit der homosexuellen Erzählerfigur unserer Geschichtre, die leider böse für ihn endet, erstmal jedenfalls, nämlich mit einem Krankenhausaufenthalt, wegen der überragenden Kampfsporttechniken des Glam, dem zudem noch die mit familiärer Wut zugedröhnte Sippschaft aus dem Bus zu Hilfe eilt… (abschreckende, hyperrealistische Prügelszene, bei der mehr als eine DolceundGabbanastrickjacke kaputt geht)
    Aus komplizierten dramaturgischen, aber emotional hochgradig authentischen Gründen verbleibt der zunehmend sympatisch werdende Jung-Nazi nach dem blutigen Zusammenflicken bei der fahrenden Familie usw. usf.
    (Zwischendurch: Sommersturm. Hardcorige Sexszenen mit Glam und Jungnazi, bei denen Kostjas Erektion großformatig im Bild ist, einfach weil man das ja jetzt so macht im Kino und wir auch nichts dafür können … am Ende schwule Hochzeit durch (Gastauftritt:Klaus Wowereit), der Jungnazi fängt in Kreuzberg eine Ausbildung zum Tierarzt an und geht als Neumitglied der ähm, FDP? in die Politik, den Schriftsteller Glam sieht man bei einer Homestory, die Frauke Ludowig wegen seinem neuen Bestseller über die neubrandenburgische Neonazi-Szene bei ihm macht… und so. )

    und wer wäre Ruth Maria Kubitschek? Darf Senta Berger mitmachen? Haben wir eigentlich eine 200jährige Schauspielerin übrig für Die-Alte-Auf-Dem-Hausstein? Oder macht das Ben Becker?
    Und was ist das für ein dunkles Geheimnis, wegen dem Katja Riemann mit zu schwarzem Augen-Make-Up dem unschuldig seiner Vergangenheit entgegentuckernden Glam-Bus auf ihrem Motorrad hinterherjagt? Warum hat sie ein Ruderboot-Ruder auf dem Rücksitz festgeschnallt!?
    Und ob da noch was mit der lesbischen Autobahn-Polizistin läuft, die die jagende Katja wegen dem unsachgemäß verzurrten Ruder aus dem Verkehr holt?
    Boah! Polizeilesbe: Veronica Ferres?

    Hach, Besetzen macht so einen Spaß 🙂

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  3. glamourdick

    REPLY:
    wenn man hannelore elsner die zähne ausschlüge, dann wäre sie qualifiziert für den part der bösen L.

    ich möchte bitte den nazi raus und dafür das amerikanische mitglied einer psychedelischen hippiekommune, die mit hilfe von pilzgerichten versucht, die einheimischen zum kommunismus zurück zu bewegen. ich denke da an devendra.

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