DOT.CUM oder SIND DIE BLAUEN SEITEN DIE NEUEN BÜSCHE?

Man überlege mal, dass noch bis vor vierzig Jahren ein öffentliches Leben als Schwuler selbst in der Großstadt alles andere als unproblematisch war. So betrachtet scheint es, als seien wir einen weiten Weg gegangen. Das schwule Leben und Erleben war bis dahin weitestgehend im privaten Raum zulässig, oder im Ghetto schwuler Bars und Etablissements. Wer dafür kein Geld hatte, dem blieben die Cruising-Areas. Ein amerikanischer Besucher berichtete mir vor 15 Jahren von einem Tiergartenspaziergang und seiner schockierenden Beobachtung „Die ficken! In die Büsche!!“ Vielleicht spielte und spielt der Reiz des entdeckt werdens eine Rolle, das wäre symptomatisch für eine verborgen gelebte, mt Scham besetzte Sexualität, die danach schreit, ohne Hemmung ausgelebt zu werden. Der alljährliche Jahrmarkt der Eichelkeiten, Street Pride oder Christopher Street Day scheint ein Gegenbeweis dafür zu sein, dass sich schwules Leben wieder zurück ins Private bewegt, dabei ist er nur so etwas wie ein hedonistischer Schulausflug, der einmal im Jahr fällig wird. Kegelclubs verreisen ja auch schon mal und trotzdem sind sie nicht in unserem Bewusstsein vorherrschend. In der glitzernden Masse kann man sich so sicher fühlen, dass man mal in der Öffentlichkeit den Schwanz rauslassen kann. Ein Kick, gefolgt von einem Kater. Um an einen Fick zu kommen muss man längst nicht mehr das Haus verlassen, geschweige denn durch einen Park spazieren. Auf den Blauen Seiten kann man cruisen, so wie man bei Amazon Bücher bestellt. Fehlt eigentlich nur noch eine Vorschlagsfunktion. Sie haben den User „tuerkensau-nur-aktiv“ angeklickt. Bitte besuchen Sie auch „doppelloch18“. Und dann noch eine Wishlist für Weihnachten und Geburtstag. Natürlich gibt es trotzdem eine schwule Szene, sogar viele davon und ich glaube, es ist wichtig, eine Art von Zusammenhalt zu verspüren, um ein Gefühl von Sicherheit zu haben. Wenn ich mich aber durch die Profile auf den blauen Seiten klicke bekomme ich eher ein Gefühl der Dissoziation. So viel grässliche Kerle! Und alle schwul! Die meisten haben ihre Ansprüche, Vorlieben und Kicks so definiert dass keinerlei Überraschungsmoment mehr möglich ist. Sie schreiben was sie wollen und bekommen genau dies und wissen gar nicht, was ihnen möglicherweise entgeht.

Ich möchte mal wieder jemandem begegnen. In der Realität und nicht virtuell. Und mir zunächst die Frage stellen – ist der überhaupt schwul? So wie früher. Ich möchte gar nicht im Vorfeld wissen, ob er einen haarigen Sack hat oder Tattoos oder ob er auf Facials steht. Kennen lernen und nicht ankreuzen oder abhaken. Ja. Es ist Herbst. Herr Dick entdeckt eine romantische Ader. Er tut alles, um nicht an die Steuer zu denken.

12 Gedanken zu „DOT.CUM oder SIND DIE BLAUEN SEITEN DIE NEUEN BÜSCHE?

  1. kittykoma

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    i’ts a man’s world, definitiv, ob schwul oder hetero.
    diese effizienz der lust ist für mich immer wieder beängstigend. und ich habe im hinblick auf sex wenig ängste.
    wenn ich die angebots- und nachfragelisten lese, frag ich mich immer, warum es dann nicht auch ein stück warme, rohe leber sein darf.

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  2. Roulette

    eichelkeiten! i like it. 🙂

    vllt zermürbt es irgendwann, wenn dieser reiz des jederzeit verfügbaren komplett ausgekostet worden ist. da ist kein widerstand mehr, keine zeitliche unpässlichkeit. immer und jeder zeit ist irgendwer zu haben.

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  3. Mayflower

    er bietet mehr.
    wenn der innere filter funktioniert, kann man bezaubernde begegnungen finden.
    elfen, trolle, feen… wie in der parallelwelt großstadt meist verborgen in den wäldern.

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