COLD, CLEVER AND ULTIMATELY PARASITIC

Am Weinhachtsmorgen des Jahres 1996 wurde in Boulder, Colorado ein sechsjähriges Mädchen als vermisst gemeldet, nachdem seine Mutter einen Erpresserbrief im Haus vorgefunden hatte. Die Entführer forderten für die Rückgabe des Mädchens 118.000 Dollar, was genau dem Bonus entsprach, den der Familienvater in diesem Jahr von seiner Firma erhalten hatte. Schon acht Stunden nachdem die Entführung zur Anzeige gebracht worden war, fand man die Leiche des Mädchens im Keller des Elternhauses. Eine Obduktion ergab, dass sie mit einer Garrotte erdrosselt worden war. Außerdem wies ihr Schädel Verletzungen auf und auch ein sexueller Übergriff konnte nicht ausgeschlossen werden.

Den ermittelnden Beamten schien es naheliegend, dass die Familie für den Mord verantwortlich zu machen sei. Der bizarre Erpresserbrief, die niedrige Lösegeldforderung, der Fundort der Leiche – alles deutete darauf hin, dass mittels der inszenierten Erpressung ein Mord oder Totschlag vertuscht werden sollte, mehr schlecht als recht. Bei einer so klaren Sachlage ermittelten die Beamten nur lustlos. Da der Täter festzustehen schien, wurde beim Sammeln forensischer Daten geschlampt. In den folgenden Monaten und Jahren wurden die Ramseys in den Medien als Mörder ihrer Tochter präsentiert, auch wenn sie des Verbrechens nicht überführt werden konnten.

Dass JonBenét Ramsey eine Kinderschönheitskönigin war, die von ihrer ehrgeizigen Mutter von Wettberwerb zu Wettbewerb durchs Land begleitet wurde, verlieh dem Fall eine perverse, unheimliche Note, die dafür sorgte, dass der bis heute ungeklärte Mordfall sich im amerikanischen Kollektivbewusstsein verankert hat und zu einem amerikanischen Archetyp geworden ist. Dass dieser beunruhigende Fall auch Einzug in die Kultur halten würde, war eine Frage der Zeit.

Die Titanin der amerikanischen Gegenwartsliteratur, Joyce Carol Oates, nimmt sich in „My Sister, my Love“ nicht erstmals eines historischen Falles an, um ihn in Fiktion zu verweben. In „the Mysteries of Winterthur“ sind es drei Kriminalfälle des 19. Jahrhunderts. In „Black Water“ geht es um den Autounfall Robert Kennedys und den Tod seiner Assistentin Mary Jo Kopechne, die er im Wagen zurückließ. „Blonde“ macht aus der Biographie Marilyn Monroes ein Stück moderner Schauerliteratur. In „My Sister…“ lässt J.C. Oates den Bruder des Mordopfers, das hier Bliss Rampike heißt und keine Schönheitskönigin sondern Eisprinzessin ist, zu Wort kommen. Zehn Jahre nach der Tat, jetzt 19, nähert er sich schriftlich dem Leben und Sterben seiner kleinen Schwester an.

Skyler Rampike liefert das Bild einer amerikanischen Horror-Familie. Eine blind ehrgeizige Mutter, deren einziges Ziel das gesellschaftliche Emporkommen ist und in dem die Tochter als Mittel zum Zweck dient, der testosterongesteuerte stiernackige Vater, Traum jeder High-School-Schönheit, der mit seiner Familie nichts anzufangen weiß. Zwischen diesen sich zerreibenden Erwachsenen die beiden Kinder – „Bliss“, die als angemalte aufgerüschte Eisprinzessin die Massen (und die Pädos) begeistert und Skyler, der vom Glanz der kleinen Schwester, die ihn abgöttisch liebt, überstrahlt wird. Zu dem sie kommt, wenn sie mal wieder ins Bett gemacht hat. So, wie Oates diese Menschen schreibt, denkt man, sie zu erkennen. Es ist die uramerikanische Alptraumfamilie, der man bei ihrem derangierten „pursuit of happiness“ zuschaut. Es sind Stellvertreter. Ein wenig zu echt, um als Abziehbild zu gelten, aber dennoch mythische Figuren in einem verzerrten Spiel.

Mit dysfunktionalen Familien kennt sich Oates aus, sie sind ihr Lieblingsthema. Anhand dysfunktionaler Familien zeichnet sie ihr finsteres Bild von Amerika. Zynisch blickt ihr 19jähriger schwer geschädigter Erzähler auf seine Welt und zeichnet die Möglichkeiten auf, wie es zur Tat gekommen sein könnte. Egal, wie der Roman ausgeht – eines wird klar. Für Oates sind alle schuldig. Der dominante Testosteronvater, die dem Alkohol nicht abgeneigte Eislaufmutter. Und der Sohn, der im Schatten seiner Schwester stand. Und genau das macht aus dem in der Realität verwurzelten Roman eine Farce, eine boshafte Satire. Darf man das?

Seit ich 1997 das erste Mal über den Fall Ramsey las, hat er mich bewegt. Wie die meisten (und dank eines ausführlich recherchierten Artikels im amerikanischen Vanity Fair) hielt ich die Eltern für schuldig. Der Mord an einem Kind, das man zuvor als Zirkuspferd ins Rennen um die Gunst des Publikums geschickt hat, wirkt jedoch unschlüssig, schwer nachvollziehbar. Warum soll eine Mutter so etwas mitverschuldet haben, sei es dadurch dass sie den Täter im Familienumfeld schützen wollte? Die Fragen, die der Fall aufwirft, machen seine anhaltende Nachwirkung aus. Aus einem bestürzendem Vorfall entwickelt sich ein Mysterium, das natürlich Chronisten und Geschichtenerzähler auf den Plan ruft, so auch die große Schreibkünstlerin Joyce Carol Oates. Im Juli 2008, nachdem es durch neue Methoden in der DNA-Analyse möglich geworden war, eine DNA-Probe, die man der Wäsche des Kindes entnommen hatte, zu überprüfen, wurde offiziell eine Beteiligung eines Familienangehörigen im Mordfall JonBenét Ramsey ausgeschlossen. Fast zwölf Jahre, in denen die Familie öffentlich vorgeführt und angeprangert worden war. Patsy Ramsey, JonBenéts Mutter, starb im Juni 2006 an Krebs. Im Februar diesen Jahres wurden die Ermittlungen erneut aufgenommen.

Timesonline schrieb: „(Joyce Carol Oates) has also “solved” the murder, coming up with a solution that makes sense of Skyler’s agonised self-loathing but seems likely to cause further grief to surviving members of the Ramsey family. Some readers might consider that too high a price to pay for this cold, clever and ultimately parasitic novel.“

Parasitisch indeed. Und richtig peinlich wird das ganze durch folgenden „Disclaimer“, den Frau Oates dem Roman voranstellt:

„Though „My Sister, my Love: The Intimate Story of Skyler Rampike“ has its genesis in a notorious American „true crime mystery“ of the late twentieth century, it is a work of the imagination solely and lays no claim to representing actual persons, places, or historical events. This includes all characters in the Rampike family, their legal counsel, and their friends. Nor is its depiciton of „Tabloid Hell“ intended to be a literal depiction of media response to the crime.“

Nein nein. Natürlich nicht. Nur fragt man sich, was das Buch dann eigentlich soll, da hätte Oates sich ja etwas einfallen lassen können, was einem historischen Fall unähnlicher gewesen wäre, ausreichend Vorstellungsvermögen hat sie ja. Dass das Manuskript des unlängst erschienenen Romans bereits beim Verlag war, als im Juli vergangenen Jahres die Familie Ramsey durch die DNA-Analyse letztendlich entlastet werden konnte, ist anzunehmen. Dass man sich dafür entscheidet obigen Disclaimer einzubauen und so alle Parallelen von sich zu weisen ist nicht nur peinlich, sondern von einem kapitalistischen Zynismus geprägt, der aus einem Roman von Oates stammen könnte. Die Diffamierung der Familie (und auch noch durch die Hohepriesterin der amerikanischen Literatur) ist ein Krönungsschlag der Medienhetze, der die Familie länger ausgesetzt war, als ihre Tochter an Lebensjahren erlebte. Wuchtiger, tut mir leid Joyce Carol, hätte es nur aus Oprahs Mund kommen können.

Mit einem Funken Anstand ausgestattet, hätte Joyce Carol Oates das Manuskript zu „My Sister, my Love“ zurückziehen müssen. Bedauerlich, dass dieser einst so großen Moralistin dieser Gedanke nicht gekommen ist. Das sind die Momente, in denen ich mir Angela Carter zurücksehne. Die hätte zweiffellos das Richtige getan.

8 Gedanken zu „COLD, CLEVER AND ULTIMATELY PARASITIC

  1. glamourdick

    REPLY:
    man sieht ihr an, dass sie die meiste zeit aufs schreiben verwendet. meinetwegen sollte sie auch mal in nen spa, sich durchkneten lassen, ne haarkur und neue augenbrauen und so. den schreib-output auf ein drittel reduzieren und dafür dann nicht mehr so füllromane schreiben, denn von drei oates-romanen sind immer zwei schlicht langweilig. aber dann kommt immer wieder was, das von so durschlagender brillianz ist, dass ich bebe.

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