(KEIN) ABSCHIED VON ROXANA

„Ach, jetzt ist es schon wieder sehr spät geworden, da müssten wir die Feedbackrunde für Herrn Dick vielleicht mit dem Schlussblitzlicht zusammenlegen, wenn das für Sie okay ist.“
Als ob wir das jetzt noch ändern könnten. Sylvia aus Pankow hat 73 Minuten lang über das Verhältnis zu ihrem Vater berichtet. Wie schon letzte Woche. Und zwei Wochen davor. Aber ich steh eh nicht so gern im Mittelpunkt – deshalb bin/war ich ja hier. Werde gewesen sein. Gott sei Dank sind wir heute nur zehn und nicht neunzehn, wie neulich.
„Tja Herr Dick.“
Ich lächele in die Runde.
„Soll ich jetzt sagen, wie ich das ganze hier erlebt habe?“
Der Therapeut lächelt ein wenig mystisch zurück.
„Also, ich möchte mich bei allen bedanken, dass sie immer so nett und so ehrlich waren und ich bin etwas aufgeregt, denn in Zukunft kann ich Donnerstags zum Beispiel ins Kino gehen anstatt mir traurige Geschichten anzuhören, aber ich möchte niemanden verletzen, das ist schon okay, wenn man seine traurigen Geschichten hier loswerden möchte.“
Die Runde schut mich an. Manche lächeln. Mandy schaut nach unten und nestelt an einem Zewa-Softi. Der traurige Hans-Joachim starrt aus dem Fenster.
„Sie haben enorme Fortschritte gemacht, Herr Dick. Und Sie haben eine echte Bereicherung für die Gruppe dargestellt.“
„Dankeschön.“
„Ick finde, Du hast hier immer frischen Wind reinjebracht. Und jute Laune.“
„Ick wünsch Dir allet jute für die Zukunft.“
„Du wirstma fehln. Und ick hoff, det es Dir weiterhin juut jeht.“
Ich starre zwischendurch an den Zettel an der Wand, auf dem eine Selbsthilfegruppe für Austherapierte um Mitglieder wirbt. Das ist was für die Therapiejunkies, die selbst nach Klinik und Einzel und Gruppentherapie noch immer mit ihrem Elend verheiratet bleiben wollen. Einige der Anwesenden hüten ihre Gemütskrankheit wie einen teuren Schatz. Sekundärer Krankheitsgewinn nennt man das.
„Du hast immer allet aufn Punkt jebracht.“
„Für Dein Weiterleben nach der Gruppe wünsche ich Dir alles Gute.“
„Wat soll ick sagen? Ick kenn Dir ja nich. Na ja. Allet Jute.“
„Ick – ick ick kann nich.“ Mandy legt mir die Hand aufs Knie und schluchzt. Seit Roxana wieder auf Bonnies Ranch ist hat die Depression sie wieder voll im Griff. Erst gestern musste sie nach einer Fress-Attacke wieder brechen.
Der traurige Hans-Joachim sagt als letzter Adieu. „Es macht mich – – – traurig, dass du gehst, Glämma. Es macht mich traurig.“
Und in seinen immer noch nicht leergeweinten Augen blitzen Tränen.

Mandy und Sylvia nehmen mich in den Arm. Das erste mal, dass eine Geste des Vertrauens und der Zuneigung physische Form annimmt. Kurz überlege ich, ob ich nicht vielleicht doch meine Telefonnummer da lasse. Nö.
„Vielleicht läuft man sich ja mal über den Weg?“
„Ich wollte grad nochmal dem Therapeuten Danke sagen.“
Gehe zum Therapeute, reiche ihm die Hand, sage: „Danke!“

Im Lift lächeln wir uns alle zuversichtlich an. Hans-Joachim ist schon weg. Ich halte den Damen die Tür auf, wir winken uns noch einmal zu und dann verschwinden sie im Dunkeln.

„Washing Machine… washing machine… wa-shing ma – chiiiiiiiiiiiiine…“

18 Gedanken zu „(KEIN) ABSCHIED VON ROXANA

  1. sabbeljan

    so. nun kann ich mit ihnen definitiv nie auf eine party gehen. denn bislang war ich immer der einzige der mit dem wissen um den „Sekundären Krankheitsgewinn“ angeben konnte. aber so….naja, kegeln wird schon gehen. 😉

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  2. glamourdick

    REPLY:
    aber im teamwork beeindruckt man mit solchem wissen erst recht:
    cocktailparty xy
    glam: „und wie erst kürzlich kollege dr.med.phil. sabbeljan ganz zutreffend bemerkte, gibt es ja dann noch den aspekt des sekundären krankheitsgewinns, nicht wahr, dr. sj?
    dr. sj: „ja ja ja… ein heikles thema. immer wieder eine prekäre angelegenheit – das abwägen des sekundären krankheitsgewinns…“

    so geht das ganz gut, finde ich. wir können das beim kegeln trainieren.

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  3. sabbeljan

    REPLY:
    dr. sj: „… eine prekäre angelegenheit – das abwägen des sekundären krankheitsgewinns, aber die weiterführende arbeit von prof. dr. dr. med. pol. heideglam sind dazu sehr erhellend. sie koennen doch sicher kurz zusammenfassen, so als beruehmter neffe, herr glam, oder?“

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  4. timanfaya

    danke. was ich aus den ganzen gern gelesenen geschichten mitnehmen werde: selbsthilfegruppe für austherapierte

    [das hat etwas vom transparenten darkroom für blinde aus dem kommentar von gestern. ich mag halt das leben in seiner ganzen skurilität.]

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  5. schroeder

    Es macht mich traurig… dass wir nun nicht einmal den Abschied von Roxana nacherleben dürfen.

    Ansonsten, weißt ja, reiß ich mich zusammen und finde das super! Weiter so, Glam!

    PS: ich bin ja fest davon überzeugt, dass du dir eine Roxana auch ausdenken kannst. So für uns… oder auch den Ullstein Verlag!

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  6. glamourdick

    REPLY:
    habe mich auch schon gefragt, warum das schicksal mir keine closure mit roxana gewährt hat. aber ich möchte sie nicht in der psychiatrie besuchen. hab ja auch mit mandy keine nummern getauscht. ich werde die gewaltbereiten bulimikerinnen dieser welt jedoch nie vergessen. in meinem gedankendenkmal bewohnen sie das buswartehäuschen.

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  7. glamourdick

    REPLY:
    @lucky
    ich hab noch keinen termin vor augen. weil ich noch keinen kalender habe. aber die werden in kürze reduziert. (ich geb doch nicht geld für son scheiß wie kalender aus… 12 blätter 30 euro? nichmitmir.)

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  8. glamourdick

    REPLY:
    @ sj
    neffe. ja. ich. selbstverständlich. immer. ohmann. caipirinha mit vanillevodka führt dAZU, DASS DIESE BEANTWORTUNG 1 1/2 STUNden dauert. und dann finde ich den button, wo macht, dass nicht alles großgeschrieben, warum schlafe ich nicht besser jetzt, das mach ich jetzt mal. oopsie, chEEERS!
    MILLEVANILLEdick.

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  9. glamourdick

    REPLY:
    seien sie auch nächste woche wieder dabei wenn es heißt „bastelstunde mit glamourdick: wir basteln ein huhn und ein kalb aus 17.003 fleißkärtchen und zwei wunderkerzen“

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