PSYCHO SOMA

Ich habe keine Menschenkenntnis. Das hat seine Vor- und Nachteile. Ich finde Menschen meist dann schon sympathisch, wenn sie mir Sympathie entgegenbringen. Ich vermute immer das Beste über Menschen, die mir Sympathie entgegenbringen. Deshalb also habe ich auch sehr viel Erfahrungen mit Psychos gemacht. Wegen meiner mangelhaften Abgrenzung. Psychos lieben meine Offenheit und meine Neugier auf Menschen, meine Wertschätzung für Drama. Aber es gibt auch sehr viel gutes über Beziehungen, Freundschaften, Affären mit Psychos zu sagen. Unter anderem wird einem nie langweilig. Man hat ständig etwas, an dem man sich reiben kann. Das hält die Haut straff und die Knochen rüstig. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Menschen, die Beziehungen, Freundschaften oder Affären mit Psychos haben, einem viel niedrigen Risiko ausgesetzt sind, einen Oberschenkelhalsbruch zu erleiden, als Menschen, die sich mit Normalen und Langweiligen umgeben. Weil sie gar nicht in das poröse Alter kommen, vermute ich. Psychos haben wahnsinnig viel Persönlichkeit, oft sogar mehr als eine. Sie liefern somit Informationsquell für Verwechslungskomödien, Serienmörder-Thriller und RTL-Filme der Woche á la „Ich bin viele“. Ein weiterer positiver Nebeneffekt: man nimmt sich selbst weniger wahr, weil der Psycho und sein Drama einen vollständig beschäftigt halten. Der Gesprächsstoff geht einem niemals aus. Man wird immer wieder Menschen begegnen, die ebenfalls Psycho-Erfahrung haben und kann sich bestürzt über die Extremerfahrungen austauschen und versuchen, sich dabei gegenseitig zu toppen.
„Meiner hat mir die Autoreifen zerstochen und behauptet, es sei das libanesische Killerkommando gewesen, das er an der Backe hat, weil er seinem drogenkranken Vater das Leben gerettet hat, damals in Turin.“
„Ist ja gar nichts. Meiner hat mich um 50.000 Euro beschissen und meine Wohnung abgefackelt, während ich mich drin aufhielt. Er tat als ob er schlafwandelte.“

Jetzt ist es ja aber so, das Erfahrungen, die man wiederholt macht, auf Dauer keinen hohen Wert mehr haben. Weder was das Entertainment, noch was die Bildung und Selbsterkenntnis angeht. Deshalb kann ich sagen, dass meine Psycho-Tage vorbei sind. Mir laufen noch ständig Leute mit Macken über den Weg, und das ist auch gut so, aber wenn ich heute einen Psycho erahne, dann wechsle ich die Straßenseite oder schicke ihn nach dem Sex nach Hause. Vielleicht muss jeder mal selbst die Erfahrung machen, ich jedenfalls bin froh dass ich sie hinter mir habe. Und noch etwas – das wirklich Schlimme an den Psychos ist, dass sie sich selbst für vollständig normal halten und nie auf die Idee kämen, das einzig Richtige zu tun: Behandlung suchen. Deshalb ist der prozentuale Anteil von Psychos außerhalb von Therapiepraxen und Kliniken größer als darin. Wenn Du einem Psycho nämlich seine Psychose nimmst, dann bleibt dahinter zunächst einmal nicht viel übrig. Das Schwarze Loch, das er ohnehin ist und das Dich gänzlich in sich aufsaugen wollte.

9 Gedanken zu „PSYCHO SOMA

  1. glamourdick

    REPLY:
    ich sehne mich auch nicht nach mittelmaß. macke ist völlig in ordnung. aber man muss zwischen pathologisch und pathetisch unterscheiden (und selektieren) lernen.

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  2. tradem

    Dein Text trägt sehr viel emotionale Erfahrung und hat mich deshalb berührt. Danke!

    Auch wenn ich im Gegensatz zu dir noch am Anfang stehe, ist mir die selbe Faszination für solche Menschen in mir. Ob ich aus deinen Worten eine Leere ziehe oder nicht…zumindest ziehe ich solche Leute an, je näher ich an mein Selbst gelange.

    In meinem vollgestopften Regal steht das Buch „Soziale Intelligenz“ mit einem eigenen Kapitel über schädliche Verbindungen. Und Abgrenzung ist ohnehin mein Thema.

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  3. DrNIx

    »Ich bring mich jetzt um!« meinte sie und heulte. Ich nahm sie in den Arm, hielt sie, sagte nichts. »Du wolltest mich vergewaltigen«, so hieß es am nächsten Morgen. Ein Vorwurf, von dem sie wohl in den letzten 3 Jahre nicht abgerückt ist. Ich habe den Kontakt abgebrochen.

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  4. Aristides

    der text ist grossartig.
    ein punkt noch:

    fast alle menschen sagen, sie habe einen gute menschenkenntnis. aber guckt man sich um, eigentlich gibt es nur wenige, die diese fähigkeit haben.
    also denken die meisten leute zu unrecht, dass sie gute menschenkenner sind. sie glauben es einfach nur.

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