BERLIN GOTHIC

„Im Turmzimmer waren schon immer Menschen verschwunden“, ist der erste Satz eines Romans, den ich in meinem Gästezimmer schrieb, nachdem ich es von einem der unangenehmeren Mitbewohner befreit hatte. Frisch gestrichen, von Erde, Läusen und benutzten Kondomen befreit, strahlte der Raum in einer besonders inspirativen Aura. Als der Roman fertig war habe ich das Zimmer dann wieder seiner einstigen Funktion – als Gästezimmer – zurück übergeben, abgesehen von den Zeiten finanzieller Not, in denen ich dazu gezwungen bin, einen Mieter aufzunehmen. Wie jetzt.

Mein Gästezimmer hat mit dem Turmzimmer des Romans eines gemein. Darin verschwinden Menschen. Weibliche ausschließlich. Ich weiß nicht, ob ich diesen Effekt herbeigeschrieben habe, aber kaum ist eine neue Mitbewohnerin Untermieterin eingezogen, verschließen sich die Türen zum Turmzimmer. Man sieht sie nicht mehr. Ich kann mich nicht erinnern, wie das mit der letzten dort Verschollenen war – ist sie ausgezogen oder war sie nur auf einmal weg? Die Neue – manchmal höre ich sie wie von fern. Gestern fand ich einen Blutstropfen auf der Klobrille, was den Rückschluss zulässt, dass sie nicht nur noch lebt, sondern darüber hinaus sogar menstruiert. Auf Facebook sehe ich sie schreiben, doch verrät sie nicht, was da nun genau geschieht, im verfluchten Raum. Sie lerne die Sprache der Avatare, teilt sie ihren 500 Freunden mit – hierfür gebe ich nicht mir sondern James Cameron die Schuld. Dass das Erlernen der deutschen Sprache hilfreicher für ein Leben in Berlin wäre würde ich ihr gerne sagen, verstehe nun aber auch die Faszination, die die Bewohner Pandoras ausüben. Nur, wenn man nicht rausgeht, dann wird man auch keinen Avatar treffen. Dabei wäre das R. vermutlich die richtige Adresse, dort sind fast alle immer blau, mindestens

Vielleicht erlerne nun auch ich die Sprache der Avatare, spätestens, wenn es Zeit wird, die Miete zu kassieren. Vielleicht lasse ich mich zu einem neuen Schauerroman inspirieren – ich war noch nie so nah dran an dem Gefühl, ein Gespenst in der Wohnung zu haben.

8 Gedanken zu „BERLIN GOTHIC

  1. luckystrike

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    In der Tat – ich hab schon erlebt, daß Leute säuerlich waren, weil ich nicht auf ihre Einladung zum Essen oder sonstwas gefolgt bin, obwohl sie doch so nett eingeladen haben. Über Facebook. Und ich habe dort nachdrücklich und wohlweißlich keinen Account.

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  2. glamourdick

    REPLY:
    ich meine, wenn sie durch facebook in zusammenhang mit zuhause bleiben wenigstens reisekosten sparen würde. aber so hat sie paartausend dollar aufn kopp jehaun und ihre reise führte sie jetzt doch nur zu facebook, wenn auch in einem berliner turmzimmer.

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  3. Not quite like Beethoven

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    Das ist aber, glaube, ich nicht zu unterschätzen. Man liest ja allerorten, dass diese Geotagging- und Lokalisationsdienste eine große Zukunft hätten. Haben Sie schon mal nachgesehen, ob ihr Turmzimmer bei google.maps eingetragen ist?

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  4. glamourdick

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    wenn ich da nachschaue, dann seh ich an der stelle nur so ne komische rune und darunter was, was wie ne zahlenkombi aussieht. 666. oder drei abgebrochene seepferdchen, die auf dem kopf schwimmen.

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