Like a Virchow

8.45 Uhr Zahnarzt. Der erste in einer Reihe von Terminen, die ich seit dem Horror-Sommer aufgeschoben hatte. Viertel vor Neun ist ne gute Zeit, da habe ich wenig Gelegenheit, Horror-Szenarien auszuweiten, trotzdem sitze ich im Zahnarztstuhl und schlottere. Dann tritt in Erscheinung eine hochattraktive schwarzhaarige Elfe mit Mundschutz, ich sag ihr, bitte spritzen, ich nehm alles an Betäubung, was Sie haben, und sie macht. Und eine halbe Stunde später bin ich raus, zwei weitere Termine in Aussicht, mit der Gewissheit, dass ich nach über zwanzig Jahren, nie wieder von der Chefin, sondern in Zukunft nur noch von der Elfe behandelt werden möchte. Die Zeit bis zum Arbeitsbeginn sinnvoll nutzen, beschließe ich und suche meine Ärztin auf, eigentlich nur ein kurzes Gespräch mit der Sprechstundenhilfe. Ein Abszess vor dem Ohr ist in den vergangenen Tagen spontan gewachsen und ich will mich erkundigen, wie ich mich am Wochenende verhalten soll, falls er weiter wächst oder sonstwelchen Ärger verursacht. „Da sprechen Sie doch lieber mit Frau Doktor, in 20 Minuten hätte sie Zeit. Die Praxis kennt mich und fügt hinzu – gehen Sie doch in der Zwischenzeit nenn Kaffee trinken.
Die Ärztin betrachtet, tastet und schreibt mir eine Überweisung zum Chirurgen. Das müsse sofort gemacht werden. Die Sprechstundenhilfen benachrichtigen eine Praxis im Bergmannkiez und ich fahre los.
„Sprechzeiten sind aber heute vorbei.“
„Aber meine Ärztin hat-“
Die Kollegin tritt hinzu. „Ist okay. Die Praxis hat angerufen.“
Das dritte Wartezimmer des Tages, nach zwanzig Minuten, begrüßt mich der Arzt, schaut sich den Abszess an und schüttelt den Kopf. „Das kann ich nicht mit örtlicher Betäubung machen, in der Region liegen zu viele Nervenenden, das geht nur mit Vollnarkose. Ich schreibe Ihnen eine Überweisung für den Notarzt.“ Notarzt??? „Und empfehle das St. XY-Krankenhaus.“

Ich fahre erst einmal nach Hause, in der Hoffnung, dass die neue SIM-Card angekommen ist, sodass ich mein neues Handy endlich in Betrieb nehmen kann. Ins Krankenhaus ohne schnelle Kontaktmöglichkeit zur Außenwelt fühlt sich bedrohlich an. Weil ich so zittrig bin – seit 6 auf den Beinen und noch nichts gegessen, mittlerweile ist es halb Eins – hilft mir der Mitbewohner mit dem Handy, das mit der neuen Karte die alte Fehlermeldung gibt: nur Notfälle. So what? If ever there was one…

Strike redet mir ins Gewissen, die Sache sofort in Angriff zu nehmen – ich war zu der Entscheidung gekommen, am Samstag vormittag einzuchecken, in der Hoffnung, das Krankenhaus ohne dortige Übernachtung wieder verlassen zu können, jetzt ist es nämlich schon 13 Uhr. Und da ich gar keine Krankenhauserfahrung habe rufe ich dort erst mal an, um zu fragen, was ich denn alles mitbringen muss. Ich werde mit der Rettungsaufnahme des XY verbunden, schildere meine Krankheit. „Oh. Oh oh. Nee. Das können wir hier nicht machen. Da gehnse besser ans Virchow, die haben nen Jesichtschirurgen.“ Virchow. Wedding. Freitagmittag Rush hour. Da brauch ich ne Stunde. Fuck. Ich pack ein paar Sachen, das alte Handy, auf dem ich, falls Wlan, immerhin noch texten kann. Das Neue ist seit dem Sim-Card-Tausch nun gar nicht mehr erreichbar und schaltet auf die Voicemail, die ich nicht mehr abhören kann. Immer noch ohne Nahrung, mit einer Coke light lemon, dem neuen TC Boyle und ein paar Übernachtungssachen mach ich mich auf den Weg.

Das Gelände ist weitläufig aber überschaubar. Ein Dorf in der Stadt, mit Straßennamen und allem. Ich finde die richtige Station, mit Horrorvorstellungen, was da auf mich zukommt, aber tatsächlich gibt es keine Wartezeit, ich werde aufgenommen, erkläre meine auffällige Nervosität mit „Panikpatient“, woraufhin der aufnehmende Pfleger lächelt und sagt „Jut, dass Sie´s sagen. Merkt man schon, wie angespannt Sie sind. Die anderen, die damit nich klarkommen, die werden im nächsten Leben als Darmbakteriern wiedergeboren.“Er jagt mir mehrere Spritzen zur Blutabnahme rein und das erste Mal in meinem Leben schaue ich nicht weg, sondern zu und finde es bemerkenswert, weshalb ich es hier aufschreibe. Dann Warteraum zwei. Zunächst allein, ich versuche zu lesen. Aber keine Ruhe. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Ich schaue mir die Pfleger, Ärzte und die Patienten an, die da in ihren Krankenhausbetten verschoben werden und mir wird es flauer. Ich demnächst auch – bewusstlos durch die zugigen Gänge? Dann erscheint ein Mutter-Tochter-Team, das mitwartet und sich auffällig besonnen unterhält. Die Tochter fragt mich wie lange ich schon warte. „Ich hab extra nicht auf die Uhr geschaut, weil es mich sonst stressen würde.“ Die beiden werden aufgerufen. Als nächstes ein Teenie-Pärchen, er mit Basecap, sie mit schwarzem Pferdeschwanz und dem Grund ihrer Anwesenheit ebenfalls im Gesicht. Da ist was mit dem Lippen aufspritzen schiefgegangen, sie hat so ein blaues Kühlungspad in der Hand und drückt es immer wieder auf die Aufgespritzten. Die Teenies spielen „Wer bin ich“ und ich erfahre, dass es immer noch Rihanna und Beyoncé sind, die den größten Bekanntheitsgrad haben, aber auch die Stichworte Snapchat und Pro 7 (!) fallen.

Nach zwei Stunden holt mich mein Arzt ab, strahlt, Handschlag, ich lande direkt im Behandungsraum, zwei Schwestern Mitte 20 lächeln mich freundlich an und ohne großes Gedöns erklärt er mir, wie er das Abszess nun unter lokaler Betäbung (YESSSSSS!!!) absaugen wird. KEINE Nacht im Krankenhaus! Abszess weg und ab nach Hause! Während er spritzt, die Wunde öffnet und mit der Pussuction beginnt macht er Witze über meinen Hipsterbart, „Hipsterbart gibts aber nicht in weiß“ entgegne ich, woraufhin die Schwestern, der Arzt und ich Hipster diskutieren, während er mit einem Gerät an meinem Gesicht rumsaugt. „Boah! Das hat aber ordentlich gestreut! Wahnsinn!“ Und knallt die erste abgezapfte Phiole auf das nierenförmige Entsorgungsbehältnis. „Ah – da ist es ja“ Das Athrom, das den ganzen Schlamassel verursacht hat. „Ich schau mal ob ich es rauskriege. Wenn nicht machen wir das demnächst, das macht man wirklich besser unter Vollnarkose, ist nicht so angenehm.“ Und das merke ich, während er mit einer Pinzette an einem etwas in meinem Kopf zieht und zieht und ich spüre es und sehe es Splatter-comic-artig vor mir – er zieht und zieht, aber das Ding ist hartnäckig. Es scheint fast „Plong“ zu machen, als es in mein Gesicht zurückspringt.

Freitag, kurz vor 5. Er legt mir einen Verband an, der weite Teile des Gesichts bedeckt. „Na heute is wohl nichts mit Ausgehen?“ „Ich bin in Kreuzberg, da sehen viele so aus.“ Wir lachen alle ein bisschen und verabschieden uns mit doppeltem Handschlag. Ein Tag voller Horror-Erlebnisse, die sich komplett wunderbar auflösten. Ungefähr neunzig Mal habe ich Gott gedankt. Und als er dann auch noch macht, dass ich die verlegene Handy-Rechnung für den heutigen Umtausch finde, sage ich ihm, „Aber nicht dass Du denkst, dass ich wieder in die Kirche eintrete. Ich glaub wir sind uns einig, oder?“

5 Gedanken zu „Like a Virchow

  1. Kitty Koma

    Ich war ja der Meinung, Sie brüten an der Stelle in Ihrem Gesicht einen kleinen Glam aus und wollte deshalb nicht weiter fragen.
    Aber an Tagen mit Notarztbedarf hakt es immer irgendwie. Mal ist das Auto kaputt, mal das Handy. Und dazu: Zahnarzt und Notarzt an einem Tag, danach würde ich mindestens drei Tage hintern Schrank hocken.

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  2. glamourdick Artikelautor

    Ich bin auch etwas pchuh heute, aber das Positive überwog. (Ja, ich hatte auch gedacht eine unbefleckte Kopfgeburt bevorstehen zu haben – ein kleiner Trolle oder ein neobarockes Alien.)

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