AM ENDE BOLLERN WIR MIT GOLD oder NACH DEM FEST

Nach 5 Stunden lebensgefährlicher Autofahrt (Stau, spontane Überholmanöver polnischer LKWs, Nebel, Glätte) im Harz angekommen. Die Eltern sind bereits im Ausnahmezustand. Am Donnerstag vor 50 Jahren haben sie standesamtlich geheiratet, am Freitag kirchlich. Freitag vormittag kommen die Vertreter des Schützenvereins und der Freiwilligen Feuerwehr (sowohl als auch in Uniform), die Ortsbürgermeisterin und der Gemeindebürgermeister (die haben keine Uniform). Keine Vertreter der Partei, in der meine Mutter 20 Jahre Kommunalpolitik gemacht hat – dafür ist sie zu überzeugt ausgetreten. Mit der Tante L. koordiniere ich Kaffee, Bier, Schnaps und Platten mit Hausmacherwurscht, Schinken und Aufschnitt. Kaffee bleibt bei einer Kanne, Bier und Schnaps laufen gut. Über dem Esszimmer liegt der Duft herben After Shaves gemischt mit Altherren-Testosteron und Schlachtfleisch. Die L und ich teamworken ganz prima und gönnen uns einen trockenen Sekt schon vorm Frühstück. Das Frühstück zieht sich bis in den Nachmittag. Mit Nichte fahre ich in die Kreisstadt, um mir noch schnell eine Anzughose zu kaufen, als Ersatz für die, die ich in Berlin vergessen habe. In einer Buchhandlung empfiehlt man mir das Buch eines Autoren, mit dem ich schon sehr lustig gefeiert habe und es freut mich, dass seine Fähigkeiten sich bis in den Harz herumgesprochen haben. Ich lästere ein wenig über „Kruso“, den die Buchhändlerin toll fand. „Vor dem Fest“ fand sie so wunderschön wie ich und so lege ich ihr den Hischmann ans Herz und kaufe den „Trafikant“, weil sie ihn so heftig anpries. Bei H&M finde ich in 5 Minuten drei Bekleidungsstücke, die ich mir vornehme komplett aufzukaufen, damit ich diese bis zum Ende meines Lebens im Kleiderschrank-Repertoire habe.

Am Samstag bin ich der erste Gratulant. Ich muss dazu auch nur aus dem Bett in die Küche gehen, und vor 8 ruft man sich selbst in einem ehemaligen Handwerkerhaushalt nicht an. Wir umarmen uns, die Eltern erzählen noch ein paar Anekdoten, von denen ich mir wünschen würde, dass sie sie auch vor den anderen erzählen würden. Meine Mutter drohte an, abzuhauen, mein ziemlich unliebenswerter Großvater konterte „Aber das Kind bleibt hier!“ Sonntags fuhr sie mit meiner Schwester, mir und unserem Hund zu ihrer Mutter, fest entschlossen, nicht mehr in den 3-Generationen-Haushalt zurück zu kehren, in dem ihr das Leben schwer gemacht wird, am Abend aber hatte meine Oma Sofie sie aber wieder soweit beruhigt, dass sie den Kampf mit den drei Hausdrachen wieder aufzunehmen bereit war. Mein Vater, der einen Tag vor der Hochzeit den Brautstrauß in Auftrag gibt und am Tag der Eheschließung mit Nelken kommt, weil Rosen aus waren. (Die nächsten 50 Jahre gab es dann aber Rosen galore.) Wie mein Großvater sie beauftragt, eine Rechnung auszuliefern und auf den Briefumschlag schreibt „durch Boten“. „Das kannst Du selbst wegbringen, ich bin NICHT Euer Bote!“ Wie mein Einzelkind-Papa in die mütterliche Großfamilie aufgenommen wird, während die Mum sich mit der Familie väterlicherseits einen Behauptungskampf nach dem andern liefert.*

Um halb 11 fahren sie in die Kirche, wo Familie und Freunde sich versammeln, außer Glammy, dem das ein bisschen übel genommen wird, aber er mag den Pfarrer noch weniger als die Kirche und selbst ein auf der Orgel vorgetragenes Paul-Lincke-Medley ist zwar eine Versuchung, aber so arbeiten eben Kirchen und Austritt ist Austritt.

Im Dorfgasthof neben dem Elternhaus sind 50 Gäste auf 4 große Tische verteilt. Freunde des Ehepaares, Familie der Braut, die Verwandtschaft meines Vaters, von der ich immer noch nicht verstehe, wie sie verwandt sind – Cousinen von Groß-Cousins oder ähnlich; dann der Tisch mit dem Brautpaar, den Kindern, deren Nachwuchs und die Schwiegerfamilie schwesterlicherseits.

Reden, Gesangseinlagen, Tante E.s berüchtigte Sketche. Erinnerungen – sentimentale, wie auch lustige, und, tatsächlich, meine Mutter spricht es aus – „wenn ich sonntags mit den Kindern zu meiner Mutter gefahren bin, wollte ich manchmal nicht zurück kommen.“ Solche Ehrlichkeit wäre an einem solchen Tag vor ein paar Jahren nicht möglich gewesen – denke ich. Andererseits hatte ich mir auch nicht vorstellen können, wie sehr sich meine Mutter gegen die Front alter Leute im Haus immer wieder hatte auflehnen müssen. Als „Vertriebene“ sollte es ihr nie so recht gelingen, die hartnäckigen Senioren auf Abstand zu halten. Die Gespenster-F. lebte, trotz leerstehenden Eigenheims, bis zu ihrem Tod im Haus meiner Eltern.

Es ist schon längst dunkel draußen, und meinen Eltern bauen ab – ihnen fehlt ihr Mittagsschlaf schon den zweiten Tag, also fangen meine Schwester und ich auffällig an, zunächst übrig gebliebenes Essen im Einkaufswagen abzutransportieren. Darauf folgen die Geschenke. Mit einem vollen Wagen voller Sträuße und glitzernder Gestecke bollern wir über den Bürgersteig nach Hause. Als wir ein letztes Mal den Gasthof betreten, ist die Party in Auflösung. Selbst die hartnäckigsten Gäste, die für ihr Sitzfleisch bekannt sind, sehnen sich danach, die Beine hochzulegen. Eine Graue irgendwie-mit-meinem-Vater-verwandte fragt mich, ob ich es war, der im überheizten Saal das Fenster zum Lüften aufgemacht und ihr so den ganzen Tag vermiest habe. Ich kann das bejahen, sage „Ach hätten Sie doch was gesagt!“ und denk nur „Leck mich, Ingeborg.“

Meine persönliche Familiengeschichte ist geprägt davon, Bestandteil einer Großfamilie zu sein. Teil eines Drei-Generation-Haushalts, in dem die Stimmung oft eisig war und wo Gefühle meist eingleisig gefahren wurden. Dass sie uns Kinder ganz entzückend finden, hat uns nicht dazu verleitet, die Großeltern zu mögen. Auch wenn der Kampf nicht immer offen ausgefochten wurde – gespürt haben wir schon, dass sie unsere Mutter nicht mochten. Dann aber die Familie meiner Mutter, das Aufwachsen mit unzähligen Cousins und Cousinen, die Besuche bei den Tanten. Das zeichnet sich auch Samstag auf dieser Goldenen Hochzeit ab, wo der Tanten-Tisch der Lustigste ist. Tante E hat extra für mich den Kirschkuchen gebacken, den sonst ihre Schwester W für mich mitgebracht hat. Die W ist nicht mehr mit uns, sie ist im vergangenen Jahr gestorben.

Ich will nicht noch einen Absatz mit einer Down-Note beenden. Bei einer Goldenen Hochzeit sitzt der Tod mit an jedem Tisch. Aber es ist schön auf dieses Leben meiner Eltern zu schauen, dem ich entstamme, und zu sehen, wie wir alle die Person geworden sind, die wir sind. Oft eine Soap Opera, ein Heimatroman, eine Klamotte, ein Bergmann-Film, a little Shakespeare, eine Prise Doktorroman, Regionalkrimi, wie das eben so ist, wenn die vielversprechende Oberschwester einer psychiatrischen Anstalt den örtlichen Schmiedemeister ehelicht und gemeinsam die elterliche Schmiede in eine Firma für Metallbau verwandelt.

Und wie kommt es eigentlich, dass mir erst dieser Tage auffällt, dass mein Vater, genau wie ich, immmer immer immer die Pulloverärmel nach oben schiebt, außer wenn es ganz extrem kalt ist? Und meine Mutter auch diese kleine Stelle an der Unterseite der Unterlippe hat. Glamily.

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*diese Geschichten noch einmal zu hören nimmt mir die leise Scham dafür, meine Großeltern väterlicherseits, mit denen ich im selben Haus aufwuchs, niemals wirklich auch-nur-gemocht zu haben. Dasselbe gilt für die Gespenster-F., die mit den anderen Frauen im Haus quasi um mich buhlte und nachts im Wohnzimmer meiner Eltern saß und und fern schaute, wenn meine Eltern mal von einer Party nach Hause kamen und gern mal etwas Zeit für sich gehabt hätten.

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