GRAS DRÜBER WACHSEN LASSEN

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Am Freitag den ganzen Vormittag furchtbar angespannt, denn um 14h kommen die Eltern, die nicht mehr besonders gut zu Fuß sind und die ich drei Tage lang entertainen möchte. Es ist ewig her, dass sie gemeinsam in Berlin waren und ich könnte schwören, dass mein Vater meine Wohnung, in der ich seit 2001 wohne, noch nicht von innen gesehen hat. Er behauptet das Gegenteil.
Um 14h sind sie da – in ihrer Welt ist das längst nach Mittagszeit, also gehen wir zum Spätzle und stärken uns für den Aufstieg in den 5. Stock.
„Wir haben keine Eile, Ihr könnt nach jeder Treppe Rast machen. Ich bringe auch kühle Getränke, wenn Ihr möchtet.“
Der Ausfstieg entpuppt sich als weniger schlimm, als befürchtet. Im Apartment begrüßt uns mein derzeitiger längerfristiger Couchie, nennen wie ihn Edward, und meine Elter sind begeistert. Das Prinzip Couchsurfing ist ihnen beiden fremd, aber der Couchie charmt sie spätestens, als er deutsch mit ihnen spricht, Autodidaktendeutsch, aber erstaunlich gut, da er Musik in Yale studiert. Sein Vokabular stammt von Bach und Goethe weitestgehend.*
Nachdem wir Bravo Bravko Tartletts gegessen und Kaffee getrunken haben, machen die Eltern Mittagsschlaf und sind ganz baff darüber, dass es in meinem Großstadtschlafzimmer, das zur Straße rausgeht, ruhiger ist als in ihrem auf dem Dorf, das auf eine Durchgangsstraße schaut, auf der insbesondere Rübenlaster die Klangkulisse liefern.
Nachdem sie sich im Hotel frischgemacht haben, besuchen wir eines meiner Lieblingsrestaurants. Großer Fehler. Nichts für sie dabei. Aber dann scheckt es doch gut und die Amerikanische Nachbarin ist auch dabei und nimmt die Gesprächsleitung an sich. Das macht sie sehr gut.

Samstag morgen fahren wir ins tiefe Lichterfelde. Dort, hinter einer S-Bahnstrecke, nahe Bahnhof Lichterfelde-West, liegt das Grundstück, das mein Großonkel in den 30ern gekauft hat. Eine Tankstelle und Reparaturwerkstatt hatte er dort betrieben. Nach seinem und bis zu ihrem Tod hat meine Großtante dort Auto-Stellplätze für die Mieter in der Gegend vermietet. So haben Sie es immerhin auf drei Mietshäuser, zwei in Lankwitz und eines in Neukoelln gebracht (wo sich meine erste Berliner Wohnung befand.) Nachdem nun auch deren Sohn verstorben ist, hat seine Lebensgefährtin eine nicht unbeträchtliche Erbschaft eingefahren. Wir suchen. Und finden eine wildbewachsene Brache. Alle Gebäude müssen schon vor 20 Jahren abgerissen worden sein. Die Natur hat sich das Gelände zurückerobert. Sträucher, kleinere Bäume. Eine ungebändigte Wiese. Es ist ein harter Anblick für meinen Vater, der seit seiner Kindheit immer wieder hier zu Besuch gewesen ist. Nicht zum ersten Mal bei diesem Trip fließen Tränen. Wir setzen uns auf eine Bank vor einem Optikerladen und atmen alle ein bisschen tief durch.

Obwohl es zu nieseln anfängt fahren wir raus aus Lichterfelde Richtung Dahlem und dann links rüber an den Schlachtensee. Die Fischerhütte ist fast leer, auch auf dem See ist nur ein einzelner Angler im Mietboot unterwegs. Wir setzen uns an einen von einem Sonnenschirm geschützten Platz. Meine Eltern bestellen – für sie ungewöhnlich um diese Uhrzeit – Bier, ich frühstücke mit Kaffee. Der Regen wird immer wieder unterbrochen von starker Sonneneinstrahlung und das Wasser glitzert verführerisch, die Stille fördert die Entspannung, mein Vater wird gesprächig und kann, dank Hörgerät, der Unterhaltung auch gut folgen. Und weil´s so schön ist bestellen sie noch ein Bier und wir bleiben etwas länger. Zum verspäteten Mittagessen parke ich die beiden in der Firma, in der ich arbeite, weil die nahe am Curry 36 liegt und Essen an einem Stehtisch wegen Gebrechlichkeit nicht in Frage kommt. Dort kümmert sich die Lieblingskollegin ganz wunderbar um die Zwei bis ich mit Currywurscht und Pommes wieder zurückkomme. Zum Kaffee dann zum Franzosen bei mir um die Ecke, wo ich mit Namen begrüßt werde, was auf die Eltern Eindruck macht.

Mittagsschlaf. Ich hole sie im Hotel ab und es geht nach Mitte, in die Komische Oper für die geniale West Side Story. Logenplätze im ersten Rang garantieren erstklassige Sicht auf die Bühne und in den Orchestergraben. In der Pause gehe ich rauchen und setze mich dann zu ihnen, sie sitzen mit Glas Sekt im Foyer und wirken entspannt. Es gefällt ihnen. Nach der Oper und einigen Taschentuchmomenten schlendern wir zurück zum Wagen, das Lauftempo der anderen Operngäste ignorierend, und eine Pferdekutsche fährt an uns vorbei, was meinen Vater freut – er hat als Hufschmied angefangen, sich später aber auf Metallkonstruktionen und die Reparatur von Landwirtschaftsmaschinen spezialisiert. Ich setze die beiden im Hotel ab, bin eigentlich auch todmüde, aber die West Side Story ist schon sehr aufwühlend, und so schaue ich mit Edward eine Komödie mit Sandra Bullock, danach kann ich auch schlafen.

Sonntag haben wir Zeit für ein ausgiebiges Frühstück. Mein Vater wünscht sich das Sony Center – Metallbau eben. Da das mit dem Bier am Vortag so gut geklappt hat, wird gleich wieder eins bestellt. Danach sitzen wir noch eine Weile mit Blick auf die Tilla-Durieux-Wiese in der Sonne, bis ich sie zum Ostbahnhof bringe, weil der Zug dort länger hält, zum Einstieg mehr Zeit bleibt als am wuseligen Hauptbahnhof.

Immer schwang bei diesem Besuch mit – das könnte das Letzte Mal sein. Das war schmerzhaft. Um so schöner war es, als sie sich überschwänglich bedankten und den Trip als Highlight verbuchen. Insbesondere der See hat es ihnen angetan. Und ich glaube, dass der Besuch des alten Familiengeländes auch sehr gut für beide war. „Dein Vater wollte das noch mal sehen“, hat meine Mutter zu mir gesagt. Und wie sie ihn untergehakt hat, als er weinte, und wie sie dann weitergingen, das Bild wird für immer bei mir sein.

*Edward zählt darüber hinaus zu diesen raren Schönheiten, deren Schönheit nicht intimidiert. Weil neben dem Aussehen und den herausragenden Umgangsformen Charakter-Substanz sein maßgebliches Merkmal ist. Ich kann ihn sehr gut um mich haben und er kann sich auch wunderbar allein unterhalten.

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