VOGELSCHLAG

Ich wappne mich aus dem Hauseingang ins tosend tobende, also tosbende, nein tobsende klingt schöner, also ins besagte Schneegestöber, und aus dem Eingang links, aus dem gewöhnlich nur Berufsschüler, Narcotics Anonymous-Angehörige und Blaumannträger kommen rutscht ein Wesen auf das gefrorene Schmutzeis, das ja seit Wochen Berlins Profil ist. Ein Wesen, blassgefroren und von schmaler Silhouette, mit blondierten Haaren und wohlgeformten, aber zusammengepresssten Lippen. Schneeflocken schmelzen in seiner blass aber deutlich sichtbar orange-lila-pink-leuchtenden Aura. Mein Blick bleibt in seinem hängen und nur peripher nehme ich die ungelenke Bewegung wahr, in der er über das Eis manövriert. Er ist in Eile. Ich auch. Es ist scheißkalt. Und so eilen wir. Erst er, ich hinterher, obwohl mein zugeschneiter Wagen (wo habe ich ihn geparkt?) vermutlich in einer ganz anderen Richtung steht.
Noch im schlierenden Rennen, Gleiten, streift er den streng taillierten schwarzen Mantel ab, wirft ihn beiseite, er fliegt in die Gosse, sofort schmilzt er sich bis zum Boden durch. Sein Hemd ist sommerlich pink, von D&G, ich habe das gleiche, komisch. Weiter geht es, die Oranienstraße hinauf. Jetzt fliegt eine verknüllte Karstadt-Tüte, landet auf einem Autodach, er bleibt kurz stehen, verharrt, als wolle er sich zu mir umschauen, aber zum Zögern ist jetzt keine Zeit, er knöpft sein Hemd auf, es flattert im Schneesturm, und jetzt zieht er in einer glatten Geste den Nietengürtel aus der engen Acne-Jeans, knöpft sie auf, ein unbeholfener Moment, als er sie herabzieht, balanciert und über die klobigen schwarzen Stiefel zieht. Sie fliegt in den Sturm, wird von einer Böe weggerissen und knallt in das gegenüberliegende Schaufenster des Schuhladens. Er trägt keine Unterwäsche, sein Arsch ist fast so blass wie der Schnee, nur um einiges schöner geformt. Jetzt erst streift er das Hemd ab und da sehe ich sie, noch ganz zerknüllt, als ob verschlafen. Als er sich zu mir umdreht, bemerke ich zunächst, dass er nur minimal behaart ist. Rotblond. Eine feine Linie, die auf kerzenwachsweißem Torso vom Bauchnabel hinabschlingert und erst kurz über seinem von der Kälte unbeeindruckten Schwanz weiter wird. Der Kontrast mit dem pinken Hemd, das nun auf dem Kopf eines vorbeitrottenden Rottweilers Zwischenstation macht, utterly stylish. Auch die Brustwarzen strahlend pink. Er zieht die Augenbrauen kurz zusammen, nickt grüßend und dann breitet er die Flügel aus, schmutziggraue Flügel, eine Spannweite von ungefähr drei Metern, sie brechen durch den Sturm, eine zugegebenermaßen etwas tuntig wirkende Geste, aber von schlichter Grazie und, anatomisch bedingt, gottgegeben.
„I might be back in the summer. Winter in Berlin really sucks.“ Und als er die Flügel schlägt, wird der Schnee zu Regen und in seiner Abflugschneise glitzern die Tropfen wie Diamanten.
„See you around!“ rufe ich ihm nach und sehe, wie er, mittlerweile auf Höhe des vierten Stocks angekommen, bestätigend nickt und lächelt und mit dem Finger die Straße hinauf auf etwas deutet.
Ah! Da steht ja mein Wagen!

11 Gedanken zu „VOGELSCHLAG

  1. glamourdick

    REPLY:
    damit habe ich mir heute morgen gute laune geschrieben. angels in boots. äh – ich meine natürlich äh – bloggerehre undsoweiter- das ist natürlich die reine wahrheit und genau so hat sich das abgespielt. er hat mir dann auch noch seine telefonnummer runtergeworfen. also, wenn ihr mal einen himmlischen gefallen braucht – i´ve got a direct line to heaven.

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