HARZWALDBURSCHE (ALMOST)

Letztes Jahr um diese Zeit machte ich mir arge Sorgen, wie ich über den Winter kommen sollte. Ich war ohne Job und arbeitsunfähig, hatte aber Miete zu zahlen. Meine Eltern hatten ein Haus im Harz geerbt, das Arbeit machte und Geld verschlang, also zog ich für eine gefährlich lange Weile in Erwägung, meine Wohnung unter zu vermieten und den Winter im tiefen Harz mit Renovierungsarbeiten zu verbringen. Der Entschluss stand fast fest, als ich an einem glühend schönen Septembertag das Haus besuchte. Es liegt direkt auf einem steilen Berg, in einem kleinen Dorf, dahinter nur Wiesen und Wald und ein kleiner See. Ich verbrachte mit meiner Familie einen Tag dort, wir schauten uns die Bilder unserer Vorfahren an, blätterten in ihren Büchern, tranken Kaffee im Garten. Ja, ich konnte es mir vorstellen, hier Zeit zu verbringen, wo mein Handy kein Netz hatte und TDSL noch nicht verfügbar war. Dann erinnerte ich mich an den Winter dort oben. Schneeketten. Blitzeis. Den Frühling, der später kommt und länger bleibt, den Herbst, wo die Nächte früher kalt sind, die Nebelstimmungen in den Tälern. Die Tannenwälder (ich hasse Tannen). Die Dorfbevölkerung, deren Altersdurchschnitt vermutlich bei 60 Jahren liegt. Und dann bekam ich glücklicherweise einen Job und meine Pläne wurden erlöst.
Gestern telefonierte ich mit meiner Mutter. Sie rief mich aus dem Haus im Harz an. Mit ihren Schwestern hatte sie den ganzen Tage lang Schränke ausgeräumt, Möbel gerückt, Bier getrunken und viel Spaß gehabt, wie sie mit ihren Schwestern immer Spaß hat, wenn diese ihre Männer zu Hause lassen. Es war wieder einer dieser magischen Septembertage gewesen. Sie hatte das Haus für seinen neuen Mieter bezugsfertig gemacht. Und da war die Erinnerung ganz präsent, an diesen wunderschönen perfekten Sommertag vor einem Jahr, wo die ganze Familie zusammen war und die klare Luft, das kühle Wasser und das Zusammensein genoss und ich war froh, dass es jetzt in diesem Haus, das fast meine Lebensplanung irritiert hätte, noch einen so luxuriösen Moment von Nähe und Freude innerhalb der Familie gegeben hat, bevor der Förster und seine Frau einziehen, was dem Haus viel besser steht als ein Glam aus Berlin.

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(Statt Glam im Harz – Harzer Glam in Berlin: Tante Eleonores Tasse, jetzt meine.)

10 Gedanken zu „HARZWALDBURSCHE (ALMOST)

  1. brittbee

    Ich kenn ja ein paar Fotos von dem Hexenhäuschen, und den Ort kenn ich auch ganz gut. Daß die Verlockung groß war, das Elend Dir zu lassen und in dieses Idyll zu flüchten, war ein nachvollziehbarer Impuls.

    Die Wörter „Förster“ und „Mieter“ klingen aber wirklich gut. Dann ist es immer noch Euer Haus und wird trotzdem bewohnt.

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  2. wortschnittchen

    Gute Entscheidung, Glam. Übrigens: Im Vogelsberg existiert ein Haus-Äquivalent, über dessen zukünftige Nutzung auch nachgedacht werden muss. Mischwald statt Tannen (auch nicht besser).

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  3. glamourdick

    REPLY:
    mischwald ist ein großer pluspunkt! da wäre ich möglicherweise eingeknickt. und ihr könntet mittlerweile meinen neomagischen heimatroman lesen, den ich dort zu schreiben gedachte.

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