PRAG. EIN TRIP. EIN FENSTERSTURZ oder MAMBO NR 0,7

Tag 1

“Jeder Finger ist nicht gleich. Manche sind krumm und andere schief. (…)
Man muss immer locker bleiben.“
(EinTaxifahrer auf dem Weg zum Flughafen Berlin-Tegel.)

Das erste was mir in Prag auffällt ist, dass alte Männer dort hauptsächlich schwer abgearbeitet aussehen. Kaputte Beine, krumme Rücken, dicke fette Brillengläser. Das liegt daran, dass ich vom Flughafen nicht ins Hotel gefahren werde, wo es keine alten Männer gibt, sondern gleich zum ersten Drehort für einen RTL-Beitrag über Dolly Buster und ihre Kandidatur für das Europa-Parlament in Tschechien im Sommer 2004. Außer mir ist noch niemand vom Team am Drehort – überhaupt liegt über diesem schönen Junitag verschlafene Ruhe. Ein einsamer ansehnlicher Polizist (heile Beine, gerader Rücken, brillenlos), der überhaupt nichts zu tun hat, als mich suspekt zu finden und sich zu fragen was in den beiden Reisetaschen ist, die ich den ganzen Tag mit mir herumschleppen werde, wacht über mich. “Skolska“ lese ich in großen Buchstaben an einem Gebäude und denke “Aha, hier ist die Dolly also zur Schule gegangen.“ Aber nein – dies ist das Wahllokal, in dem sie sich nicht wählen werden darf, da sie erst nach dem 2. Mai ihren festen Wohnsitz in Prag angemeldet hatte, somit zu spät, um die Wahlberechtigung zu erlangen. Und das, wo jede Stimme zählt. In diesem Wahllokal (wie auch in allen anderen des Landes) herrscht gähnende Leere. Die Wahlleiter freuen sich über die Ablenkung, die sie dank uns haben und sind sehr freundlich. Schade, denn eigentlich wollten wir filmen, wie Dolly schroff abgelehnt und des Saales verwiesen wird. Stattdessen: Autogramme. Der Polizist, mit dem wir uns hätten anlegen können, hat sich hinter einem Fenster verschanzt.

Nächster Stop Karlsbrücke. Die bricht fast unter deutschen Touristen
zusammen. Wenn man in Deutschland noch eine fromme Zurückhaltung der Hobby-Fotografen und Autogramm-Sammler spürt, ist hier jede Zurückhaltung abhanden. Enthemmt stürzen sich kleine Mädchen und dicke Jungs auf Dolly. Und — Taschendiebe. Im Restaurant angekommen, stellen wir fest, dass jemand das Bustersche Portemonnaie gestohlen hat. Wir schicken die TV-Crew ins Studio und bitten sie, das Video-Band anzuschauen, das wir auf der Karlsbrücke gedreht haben und zu überprüfen, ob man die Diebe vielleicht erkennt. Während wir zur Polizei fahren werden die Bänder gesichtet. Die Polizeiwache sieht aus, als ob ein 40er Jahre Filmset eine 20er Jahre Wache imitiert. Die Möbel sind schief, die Wände und Böden schmutzig. Kafka 2004. Im Vorzimmer lesen drei Polizisten “Blesk“, die tschechische Bild-Zeitung, und ein phlegmatischer Polizist tippt einfingrig die Anzeige. Bei der Angabe der gestohlenen Gegenstände vertippt er sich acht mal beim Wort “Eurocard“. Beim Wort “Givenchy“ geben wir die Korrekturversuche auf. Ich denke an Marilyn und die 58 mal wiederholte Einstellung in „Manche mögen´s heiß“, in der sie nichts zu sagen hat als “Wo ist der Bourbon“ und stattdessen nie die richtige Reihenfolge fand. “Ist der Bourbon wo?“. “Bourbon der wo ist?“
Wir erzählen dem Polizisten, dass wir möglicherweise ein Video-Band mit den Gesichtern der Täter haben. Er winkt ab. “Prag hat eine Million Einwohner“. Unsere Begriffsstutzigkeit wird immer offensichtlicher.

Egal wo wir hingehen – Dolly wird erkannt. Viele sprechen sie auf die Europawahl an und sagen, dass sie sie wählen gehen. Vor ein paar Wochen hat sie in Ostrava vor hunderten von Bergleuten eine Rede gehalten und die Masse skandierte “Wir wählen Dolly“ (auf Tschechisch).

Trotz Geldmangel und Verärgerung machen wir uns in der Nacht wieder auf den Weg in die Stadt. Wir besuchen empfohlene Orte, die sich als üble Kaschemmen entpuppen und gehen stattdessen ins “Lavka“, eine Disco, die Dolly von einer zwanzigjährigen Transe empfohlen wurde. Ein Go-Go-Girl tanzt einsam, außer von Dolly und mir unbeobachtet und als denke sie dabei an das morgige Frühstück. Als wir eine Weile dort gesessen haben ist uns nach Flucht. Dolly bekommt eine SMS – wir sind auf eine Party eingeladen, die auf einem Moldau-Dampfer stattfindet. Ein Motorboot holt uns ab.
Dolly ist skeptisch. “Hast Du Lust?“
“Wenn uns ein Motorboot hinbringt – ja.“
Gerade, als wir aufbrechen wollen, erscheint Luzi, die Transe. Sie ist dünn, hat weder Hüften noch Arsch, aber dicke Lippen und eine sexy Nase. Ihre schwarze Perücke könnte vom Müll sein – es handelt sich defintiv noch um kommunistisches Haupthaar. Sie trägt scharlachroten Lippenstift, ansonsten ist das Make up dezent und erinnert im Zusammenpiel mit der Perücke an Chrissie Hynde, von der Luzi noch nie etwas gehört hat. Ihr Look ist shabby chic, Betonung auf shabby. Nennen wir es „shabby Czech“.
Auf dem Weg zum Treffpunkt mit unserem Motorbootfahrer spricht uns ein Mann an. Misstrauisch halten wir in einer improvisierten Spice-Girl-Choreographie zeitgleich die Hände schützend über unsere Taschen und treten einen Schritt zurück. Doch es ist unser Mann von der Moldau, der uns zur Party übersetzen soll. Wir gehen durch einen Club zum Ableger, klettern über drei Boote (ich freue mich, dass ich keine Transe oder Porno-Queen bin, denn als einziger trage ich bequeme Schuhe) und legen ab. zunächst wird geschippert, dann gespeedboatet. Wir zischen über die Moldau, an deren Hängen und Hügeln, wie hingeschissen, opulente Architektur in gleißende Beleuchtung getaucht, und halten diesmal die Hand auf unsere Haare (zwei mal echt und einmal falsches Haar). Wieder denke ich an “Manche mögen´s heiß“: “Es kommt nicht darauf an wie lange man schaukelt, sondern mit wem man schaukelt.“

Als wir den Partydampfer betreten erklingt eine verwandte Melodie. Es ist nur eine transsylvanische Verwandte. Von Celine Dion. Ein junger Mann mit weißer Schiebermütze und soooolchen Oberarmen klärt mich auf: Helena Vondrackova singt die tschechische Fassung des Titanic-versenkenden “My heart will go on“. Die Personengruppen auf dem Partyboot: dicke reiche alte Männer, hübsche junge muskulöse Männer, Frauen die zu dicken reichen Männern gehören. Und wir. An unserem Tisch macht der dickste glatzköpfigste anwesende Mann Witze. Alle lachen außer mir, ich verstehe ihn ja nicht und bin froh darüber, weiß ich doch aus Gesprächen mit Dolly, dass alle tschechischen Witze anzüglich und unglaublich schmutzig sind. Und wenn ich so etwas höre schäme ich mich immer für den Witze-Erzähler. Eine sehr sehr beleibte Frau tanzt wild zu “Mambo Number 5“ (in der englischen Originalfassung) Luzi, die Transe, entführt mich aufs Schiffsdeck wo wir uns in gebrochenem Englisch unterhalten und spanische Zigaretten rauchen. Luzi hat mir einen frischen Sommer-Cocktail aus Vodka, Grenadine und Grapefruitsaft organisiert und berichtet, dass sie seit zwei Jahren als Transe auftritt. (Sie ist ungefähr 20)
“Don´t you think it would help, if you could speak a little more english?“ Möchte ich von ihr wissen.
Sie schaut mich irritiert an.
“I mean – if you do Britney and Barbra and Madonna and Judy Garland…?“
“I only do czech singers.“
Während wir reden schminke ich sie/ihn im Geiste ab und sehe einen schönen Mann. Sie nimmt meine Hand und wir gehen wieder hinab zur Tanzfläche.

“Was für einen Schwulen hat sich Luzi denn da geschnappt?“ hat der hässliche fette Glatzkopf Dolly gefragt.
“Das ist mein persönlicher Schwuler“ hat Dolly geantwortet.

Als wir auf die Tanzfläche gehen, sehen wir ein großes Loch im Fußboden. Am Tisch frage ich “Was that the fat woman?“ Alle lachen, nicken und schlagen sich auf die Schenkel. “Alles im Arsch“ sagt der Fette auf Deutsch. “Alles im Fluss“ sage ich, aber das versteht nur Dolly. Wir verlassen das Unterdeck und machen einen Elefantenschritt über das Loch in den Planken. Vergeblich halte ich abwärts schauend Ausschau nach “a little bit of Erica“. Zum Abschied nehme ich Luzi in den Arm. Ihre Hände wandern über meinen Oberkörper wie um die Muskeldichte zu begutachten. “It was a pleasure meeting you“ sage ich. Das versteht sie nicht.
“Glam – you must learn czech.“ (Fußnote: Ich sage es ihr nicht aber
empfinde stark, wie wichtig und ausgklügelt Dollys Parteiprogramm ist: es sieht vor, dass alle EU-Mitglieder frühzeitig westeuropäische Fremdsprachen lernen und mindestens ein Jahr ihrer Schul- und Berufsausbildung im Ausland verbringen sollten.)
“Takio.“ Antworte ich. ( “Takio“ heißt “okay“.)
Wir lachen. Meine erste tschechische Unterhaltung
Im Hotelzimmer überprüfe ich den Nachttisch. Keine Bibel. Ich freue mich, dass die Tschechische Republik ihre kommunistische Vergangenheit nicht völlig verdrängt und kann beruhigt schlafen. Das “Le Palais“ hat sich seine 5 Sterne verdient.

To be continued.

3 Gedanken zu „PRAG. EIN TRIP. EIN FENSTERSTURZ oder MAMBO NR 0,7

  1. stylebitch

    liebe Dolly und hoffe, sie wird mir einmal ihre Lippen vererben. Darin breche ich dann auf Kanutour durch Schweden auf. Yipieeehh …

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