DAS TRAUMHAFTE LESEN

Das erste Mal, dass mir das Buch über den Weg lief war, als es mir ein Kollege zeigte. Ich schaute auf das Cover, sah irgendwie mich selbst. Dann blätterte ich, sah die anderen Fotos und stellte fest, dass das nicht ich war, aber dass ich den Menschen kannte. Es muss in meinem ersten Berlinjahr gewesen sein, denn in meinem zweiten hatte er schon den Westen verlassen und im Ostteil hielt ich mich zunächst nicht häufig auf. Und gestern sitze ich so nichtsahnend im Dreck vorm Schlachtensee, während ganz Berlin hinter uns spazierengeht, da holt Frau Casino neben köstlichem Bulgur und belegten Brötchen ein Geschenk aus der Tasche, ich packe aus, sie sagt
„Das hast Du sicher längst.“ Weil es auch so nahe liegt, allein schon wenn man das Cover sieht. Aber ich habe noch nicht.
Ich fange an zu blättern und überlege, woher ich ihn kannte, dann fällt es mir ein, es muss im Schwuz oder Schwuzumfeld gewesen sein, ich weiß nicht, ob wir uns je unterhalten haben aber wir waren häufig an den gleichen Plätzen und Orten gewesen. Der Plusquamperfekt ist an dieser Stelle berechtigt. Denn Ronald M. Schernikau, so erfahre ich später über Wikipedia, ist 1991 an den Folgen von AIDS gestorben.

Frau Casino schreibt auf der beigelegte Karte, dass sie sich im Buchladen festgelesen habe. Während eigentlich gerade Famke Janssen sich gegen einen gespenstischen Polizisten zur Wehr setzt, fange ich an zu lesen. Und das Buch saugt mich in sich rein. Ich höre beim Lesen die Stimme des Autoren Matthas Frings und er erzählt eine Geschichte, die in einer Zeit spielt, an die ich mich lange nicht erinnert habe – die späten 80er in Berlin – und mit einem Mal ist alles wieder ganz plastisch. Eigentlich lese ich ja gerade Dan Simmons sehr gelungenen Roman „Drood“, aber der muss warten, ich bin von dieser Biografie extrem berührt. Was ganz sicher auch an der Fähigkeit von Frings liegt, eine Situation so plastisch zu beschreiben, dass man fast dabei ist. Die Art und Weise, wie er berichtet, das ist ein Liebesdienst, und das macht das Buch zu einem Erlebnis.

schernikau

2 Gedanken zu „DAS TRAUMHAFTE LESEN

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert