SISTER, I´M KEEPIN MY EYES ON YOU

Mein erster und einziger Ausflug in die Arbeitswelt der Gastronomie war kurzlebig und nervenaufreibend. Er fand statt im neu eröffneten „Quartier“, dem vormaligen „Quartier Latin“, dem heutigen „Wintergarten-Variété“. Das einzig Gute an der Geschichte waren die enormen Trinkgelder und die Nähe zum Kumpelnest, wo wir alldienstabendlich das taten, wofür man Trinkgelder einmal erfunden hat: versaufen. Der Job an sich stresste mich so, dass ich von den Variété-Shows nur wenig mitbekam. Meine zukünftige Chefin Georgette beispielsweise, die dort eine Show moderierte, nahm ich überhaupt nicht war. Aber die Kleene mit der singenden Säge und dem zweiten Act, den sie herzzerbrechend hinreißend darbot: „Miss Celie´s Blues“.
Ein paar Jahre später war ich in einem neuen Theater angestellt, allerdings nicht in der Gastronomie, sondern an der Kasse. Den Job beherrschte ich viel besser, vielleicht wegen meiner Affinität zu Geld. Dort arbeiteten wir wie Zirkusmenschen in kleinen Wagons, der Spielbetrieb fand in einem schnuckeligen Spiegelzelt statt. Eines Tages kam ein Mädchen in den Kassenwagon, blass, ein bisschen verpickelt, sehr Berlinerisch und mit einem Underdog-Charisma, das mir so noch nie begegnet war. Eines Nachts stand dieses Mädchen auf der Bühne, in einem Abendkleid, vermutlich irgendeinem Schmuck im Haar, einer mit Glitzerpuder bestäubten Schulter-Tattoo. Und sang. Wir alle verliebten uns mit einem Paukenschlag. The Becker had landed.

Im Gegensatz zu meinem Job im „Quartier“, kam ich in meinen Jahren in der „Bar jeder Vernunft“ sehr sehr häufig in den Genuss, mir dort eine Show oder ein Stück anzuschauen. Der komische Parkplatz neben dem Gebäude der „Freien Volksbühne“ wurde eine Heimat, die Crew und die Künstler eine Familie. Nicht immer eine harmonische, oft sogar sehr psychotisch, aber nie langweilig. So in etwa wie das Werk dieses Mädchens Meret Becker. Ob als Gastgeberin des „Nacht-Salons“ (der manchmal erst mit Sonnenaufgang endete – es fand sich immer NOCH jemand, der auf die Bühne geholt wurde, gab immer MEHR Zugaben, es waren keine Shows mehr, sondern öffentliche Jam-Sessions des kreativen Undergrouds und der etablierten Berliner Theaterszene), in ihren Soloprogrammen oder der schwer zu beschreibenden Wunder-Show „Tabernac“, in der sie einen Drachen vom Zeltdach zum Publikum herabschweben ließ, Meret verbreitete Magie und Strasssternchen. Hinzu kam noch, dass sie Marilyn liebt wie ich, und dass es niemanden gab und gibt, der , wie sie, „Blue Moon“ so singt, dass mir die Tränen übers Gesicht laufen.

So sitze ich gestern sehr sehr neugierig in dem Saal, in dem ich sie zuallererst gesehen habe – mit „Miss Celie“ und singender Säge. Und als die Show startet erkenne ich ihren Stempel, erkenne das Mädchen von damals wieder, etwas skurriler, ihre Beiträge gewachsen an den Ausflügen ins Hyperbizarre Edward-Gorey-hafte, trotzdem kein Schlaghammer mit dem die hauptsächlich im Seniorenalter befindlichen Gäste (und ein atemberaubender Selbstgedrehte-rauchender bärtiger Heteromann) in die Sitze gehauen werden. Die kleene freche Knospe von vor 19 (OMG!) Jahren ist eine Blüte geworden, die in einer Aura wildester mitternachtsblauer Schmetterlinge glüht und duftet. Und singt.

Nach drei Jahren Nachtsalon hatte ich gedacht, wenn ich nie wieder einen Jongleur anschauen muss, dann ist das immer noch zu häufig. Und alte lustige Männer finde ich nach wie vor nicht lustig. Gestern waren zumindest die Jonglage-Nummern unterhaltsam. Die Akrobatik war so beeindruckend, dass mir der Mund aufstand. Remi Martin beispielsweise hätte sich einfach nur eine viertel Stunde auf die Bühne stellen können und alle hätten gesabbert – was er aber darüberhinaus-stattdessen an diesem Pfahl tut ist jedenfalls bombastisch.

Das Schönste an der Show – sie wird gehalten und getragen vom musikalischen Konzept von Merets Band „The Tiny Teeth“. Was eine Nummernrevue hätte sein können, wird so zum Ensemble-Piece, in dem jeder Act seinen verdienten Raum bekommt und aus den vielen Facetten ein wunderbar stimmiger Abend Vaudeville wird. Bisschen Jahrmarkt, bisschen Kuriositätenkabinett und vor allem janz doll Meret Becker. Absolut anschauenswert. Und – machen Sie´s wie ich, nehmen Sie Ihre Mutter mit, der wird´s auch gefallen.

Auffällig – manche Stars meinen, sich ständig neu definieren, kleiden, „erfinden“ zu müssen. Andere Stars hingegen werden im Verlauf ihrer Karriere immer mehr konsequent sie selbst. Sie wissen, welche ich für die Echten halte. OH! Und was ich völlig vergaß zu erwähnen – das Aas ist keinen Tag gealtert seitdem. Meret macht was entschieden richtig! Big Kiss!

5 Gedanken zu „SISTER, I´M KEEPIN MY EYES ON YOU

  1. brittbee

    was für eine liebeserklärung. was für ein schöner text.
    ich war fast nur im „nachtsalon“, der war billig. andere karten konnte ich mir in der „bar“ damals nicht leisten, und ich kannte noch keinen, der wen kannte. ich war da oft, wannimmer ich konnte. und von all den abenden ist mir die sonst eher schreckliche sharon brauner mit einem song in erinnerung geblieben. tim fischer mit einer nummer. und alles andere wird überstrahlt von erinnerungen an meret. vor drei, vier jahren hat sie eine rolle in einem eher lala film gespielt. sie war aber TOLL. und als ich ihr das, angeschiggert, auf der premierenparty gesagt habe, hat sie mich angeguckt als wäre sie nur bei mir, und als wäre es das erste und einzige kompliment auf dieser welt. und am liebsten hätte ich ihr gesagt, was mir diese abende in der bar damals waren. dazu war ich zu trunken, aber ich denke sie hat eh gespürt dass meine begeisterung älter und tiefer war. schade dass ich den abend ohne DICH genießen muss. aber ich geh ganz sicher.

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  2. Roulette

    Schöne, schöne Empfehlung. Varieté und all was damit zusammenhängt – auch Straßenvarieté war für mich in den 90ern auch ein wichtige Inspiration. Einmal hätte ich auch fast an einem Projekt mitgearbeitet, wo Meret gespielt hat. Aber nur fast. 🙂

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  3. glamourdick

    REPLY:
    ich hab noch ein von m.b. im copyshop eigenhändig gefertigtes crew-t-shirt „tabernac“ mit persönlicher widmung. (und einen koffer voll schöner meret-erinnerungen, die aber hier nicht veröffentlicht werden.)

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